Todwald. Günter Huth
Bewegungen zuließen. Die Arme waren an seiner Seite fixiert. Lediglich den Kopf konnte er etwas hin und her bewegen. Die wohlig warme Geborgenheit verflüchtigte sich. Mit seinen frei beweglichen Fingerspitzen berührte er die nackte Haut seines Oberschenkels. Er war teilweise mit einem Tuch zugedeckt.
Langsam kroch Panik in ihm hoch. Was war mit ihm geschehen? Wo befand er sich? Er öffnete den Mund und gab einige krächzende Laute von sich. Das Ergebnis war ein trockener Husten, der seinen Brustkorb erschütterte. Er wollte tief Atem holen, doch das wurde durch den unnachgiebigen Brustgurt erschwert. Für einen Moment hatte er das schlimme Gefühl, ersticken zu müssen.
»Hallo …«, krächzte er kläglich. Dann lauter: »Hallo, ist da jemand?«
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür fiel mit dem Aufflammen mehrerer greller Neonlampen zusammen, deren Licht wie Blitze auf seine Netzhaut traf und ihn zwang, geblendet die Augen zu schließen.
Er hörte harte Schritte, die sich ihm näherten. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er den Menschen zu erkennen, der sich jetzt über ihn beugte.
»Bitte … bitte …«, stammelte er. »Was ist …?«
Die blonde Frau, deren Gesicht hinter einer Schutzmaske verborgen war, blieb neben ihm stehen und musterte ihn aus kalten Augen. Jetzt sah er, dass sie einen weißen Kittel trug. War sie eine Ärztin?
»Bitte, wo bin ich? Was geschieht mit mir?« Die trockenen Stimmbänder versagten ihm fast den Dienst. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Angst trieb seinen Blutdruck in die Höhe. Neben ihm begann ein Kontrollgerät im Rhythmus seines rasenden Herzens zu piepsen.
Die Frau zeigte keinerlei Reaktion auf seine Fragen. Langsam griff sie in ihre Kitteltasche und holte eine aufgezogene Spritze hervor. Ohne ein Wort der Erklärung schob sie das Tuch vom Arm des Gefesselten und trieb die Nadel in einen Zugang, den er an seinem Handrücken erkennen konnte. Gleichmäßig, ohne Hast, drückte die Frau den Kolben herunter und die klare Flüssigkeit in der Spritze gelangte in seinen Blutkreislauf. Alle seine Abwehrversuche wurden von den Fesseln unterbunden. Die Frau blieb stehen und beobachtete über den Monitor des Kontrollgeräts wortlos, wie das Medikament wirkte.
Die Betäubung kam wie eine heftige Welle und schwemmte jegliche Gedanken weg. Das Letzte, was er spürte, war die Rückkehr eines unbestimmten Gefühls von Wärme und Geborgenheit.
Dr. Simon Kerner, Direktor des Amtsgerichts Gemünden am Main und in dieser Eigenschaft auch Vorsitzender des Schöffengerichts dieser Behörde, sah leicht verärgert auf seine Armbanduhr. Es war zehn Uhr zwölf. Die Protagonisten des Prozesses gegen Georg Habermann wegen Verdachts des Raubes, der Staatsanwalt, die Schöffen, der Angeklagte und die Zeugen, waren alle versammelt und saßen auf ihren Plätzen. Auch einige Zuschauer dieser öffentlichen Strafsitzung warteten auf den Prozessbeginn. Dieser war für zehn Uhr angesetzt gewesen.
Der Angeklagte, ein eher schmächtiger Mann von achtundzwanzig Jahren, der in seinem billigen grauen Anzug wie verkleidet aussah, saß etwas verloren auf der Anklagebank. Nervös fuhr er sich zum wiederholten Male mit der Hand über sein pomadisiertes Haar. Seine Augen in dem schmalen, blassen Gesicht streiften ständig den Eingang des Sitzungssaals. Sie suchten nach seinem Verteidiger, der als einziger Prozessbeteiligter bisher noch nicht aufgetaucht war.
»Frau Wetterstein, gehen Sie doch bitte mal raus und erkundigen Sie sich bei der Pforte, ob Rechtsanwalt Schnitter bereits im Hause ist. Sollte das nicht der Fall sein, dann rufen Sie bitte in seiner Kanzlei an und fragen Sie nach, wo er bleibt.«
Die angesprochene Protokollführerin nickte und erhob sich von ihrem Platz am Kopf des Richtertisches. Mit fliegender Amtsrobe eilte sie hinaus. Kerner wandte sich an die Menschen im Sitzungssaal.
»Tut mir leid, meine Damen und Herren, aber ich werde den Beginn der Sitzung um fünfzehn Minuten verschieben. Ich möchte diesen Strafprozess, wenn irgend möglich, heute zu Ende bringen. Herr Staatsanwalt, meine Herren Schöffen, wir warten am besten oben in meinem Dienstzimmer. Meine Sekretärin wird Ihnen gerne einen Kaffee anbieten.«
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft sowie die beiden Laienrichter und Kerner erhoben sich und verließen den Sitzungssaal. Im Hinausgehen winkte Kerner den Dienst habenden Justizwachtmeister zu sich.
»Herr Nottger, sorgen Sie bitte dafür, dass die Prozessbeteiligten hier vor dem Sitzungssaal bleiben und sich der Angeklagte von den Zeugen fernhält.« Der Justizwachtmeister nickte und baute sich mit verschränkten Armen vor dem Sitzungssaal auf.
Kerner saß mit den beiden Schöffen am Besprechungstisch seines Dienstzimmers und unterhielt sich mit ihnen über den Prozess. Der Staatsanwalt hatte sich entschuldigt. Er war vor das Gerichtsgebäude gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Innerhalb des Hauses herrschte Rauchverbot.
Kurz vor Ablauf der fünfzehn Minuten klopfte es an die Tür des Büros und die Protokollführerin trat ein.
»Tut mir leid, Herr Kerner«, erklärte sie etwas gestresst, »es hat bis jetzt gedauert, bis ich eine telefonische Verbindung mit der Kanzlei Schnitter bekommen habe. Die Leitung war ständig belegt.«
»Und…?«, fragte er ungeduldig.
»In der Kanzlei scheint alles drunter und drüber zu gehen. Wie mir die Bürochefin sagte, ist Rechtsanwalt Schnitter heute nicht dort erschienen. Seine Akten für den heutigen Strafprozess liegen unberührt auf seinem Schreibtisch. Sie versuchen ständig ihn zuhause zu erreichen, aber er geht nicht ans Telefon. Die Mitarbeiterinnen sind ziemlich ratlos.« Sie sah Kerner abwartend an.
Dieser erhob sich und zog ärgerlich seine Robe wieder an. »Die hätten uns ja auch verständigen können! In diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig, als den Termin zu vertagen. Der Angeklagte hat selbstverständlich das Recht auf die Anwesenheit seines Verteidigers. Bin gespannt, welche Erklärung Schnitter für sein Versäumnis hat.« Er sah die wartende Protokollführerin an. »Sagen Sie bitte dem Staatsanwalt Bescheid. Wir gehen schon mal in den Sitzungssaal.«
Zehn Minuten später war der Prozess vertagt und alle Prozessbeteiligten entlassen. In sein Büro zurückgekehrt, legte Kerner das Aktenbündel auf seinen Schreibtisch, hängte seine Robe in den Schrank und zog die weiße Krawatte aus. Langsam setzte er sich in seinen Bürostuhl und kippte die Lehne nach hinten. Das Verhalten von Rechtsanwalt Werner Schnitter verwunderte ihn schon sehr. Der Anwalt war nach seiner Erfahrung ein zuverlässiger Strafverteidiger, der sehr um seine Mandanten bemüht war. Unentschuldigtes Fernbleiben von einem Prozess war bisher noch nie vorgekommen. Bei einer Erkrankung hätte er doch sicher angerufen.
Außerhalb des Gerichtssaals duzten sich Kerner und Schnitter. Sie waren Mitglieder im selben Fitnessclub, hatten schon öfters gegeneinander Squash gespielt und nach der anschließenden Sauna ein Bierchen getrunken. Aus Gesprächen wusste er, dass Schnitter unverheiratet war und keine Kinder hatte. Der Beruf war sein Lebensinhalt, allerdings gönnte er sich jedes Jahr eine längere Reise ins Ausland. Mehr wusste Kerner nicht über den Anwalt.
Simon Kerner hatte für einen Moment ein merkwürdiges Gefühl. Mit einem Kopfschütteln schob er diese Empfindung beiseite. Sicher gab es für den Vorfall eine ganz simple Erklärung. Er beugte sich nach vorne, schlug die Akte Habermann auf und formulierte handschriftlich eine entsprechende Aktennotiz.
Der kräftige Mann hinter der dicken Glasscheibe erhob sich und kam sichtlich verärgert aus der Portiersloge.
»Professor, du kennst die Regeln! Wenn du besoffen bist, kommst du hier nicht rein!«
Der mit »Professor« Angesprochene