Ruth Gattiker. Denise Schmid
berichtet, dass sich der 46 Jahre alte Bauer Franz Büeler durch das viele Arbeiten von fünf Uhr früh bis spät in die Nacht für seine fünf Kinder die Gesundheit ruiniert habe und deshalb ein neues Herz brauche.15 Eine Fotografie zeigt den aufopferungsvollen Vater. Am 11. Juli berichtet der Blick über den Vespa-Unfall des Herzspenders Anton Imhof, eines 33-jährigen Landwirts, der «nur wenige 100 Meter vom Heimetli des Herzempfängers entfernt in Muotathal verunglückte». Doch man scheint aus dem ersten Fall etwas gelernt zu haben. «Nach langem inneren Kampf gaben die Eltern Imhof ihre Einwilligung», dramatisiert der Blick den Umstand, dass man diesmal das Einverständnis zur Herzverpflanzung bei den Angehörigen eingeholt hat.
Auch Büeler geht es nach der Operation gut, und zwar so gut, dass ihn die Ärzte nach Hause entlassen, nicht zuletzt, weil sein Vorgänger ja schwere Pilzinfektionen im Spital eingefangen hat. Das will man nun verhindern. Bei einer Kontrolle nach drei Monaten ist das EKG nicht in Ordnung, und die Internisten deuten es wieder als Zeichen für die Abstossung. Ruth Gattiker berichtet: «Sie haben ihn daraufhin aber trotzdem wieder heimgelassen, und eines morgens lag er tot im Bett. Die Frau rief uns an und sagte, es mache nichts, denn seine letzten drei Monate seien so schön gewesen. Er habe wieder alles machen können, sei Traktor gefahren, habe die Kühe gemelkt und sei glücklich gewesen, und jetzt sei er friedlich in der Nacht gestorben. Es sei gut so, er habe ein schönes Ende gehabt. Für Senning war der Fall danach klar. Er hat gesagt, er transplantiere keine Herzen mehr. Der Ball liege jetzt bei den Immunologen. Die müssten etwas entwickeln, das die Abstossung verhindere. Letztlich waren beide Operationen Experimente am lebenden Objekt oder, besser gesagt, am todgeweihten Objekt, denn beide Patienten hatten keine Prognose mehr.»
Ruth Gattiker drückt damit deutlich aus, worüber man im Nachgang der beiden ersten Transplantationen lieber nicht mehr sprechen möchte. Im Herbst 1969 findet ein Symposium zum Thema Transplantationen der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften statt. Der Chirurg und Spezialist für Nierentransplantationen Prof. Felix Largiadèr sagt, dass das Thema Herztransplantationen am Symposium nicht thematisiert werden durfte. Dabei wäre es in seinen Augen der Moment gewesen, um wissenschaftlich darüber zu diskutieren. Aber offenbar wollte man nicht über Misserfolge sprechen.16 Diese «Schwamm drüber»-Mentalität deckt sich mit der Beobachtung, dass auch im Jahresbericht 1969 des Kantonsspitals die Herztransplantationen kaum erwähnt werden. Im Bericht der Chirurgischen Klinik A werden zwar zwei Herztransplantationen und acht Nierentransplantationen aufgezählt, aber nur mit dem Vermerk, dass es weniger Nierentransplantationen als sonst waren wegen fehlender Spender. Im Bericht kommt das Thema Nierentransplantationen zur Sprache, zu den Herztransplantationen kein Wort.
Anfang der 1980er-Jahre kommt mit Cyclosporin ein Medikament zur Kontrolle der Abstossungsreaktion auf den Markt. Danach werden Herztransplantationen sicherer; die Zahl nimmt stetig zu und pendelt sich ab Anfang der 1990er-Jahre bei jährlich weltweit 4000 bis 4500 Herztransplantationen ein. 2013 wurden 4477 Herzen verpflanzt. Die durchschnittliche Überlebenszeit liegt heute bei elf Jahren.17 In der Schweiz wurden in den vergangenen Jahren durchschnittlich 30 Herzen pro Jahr transplantiert. Das Scheinwerferlicht der Medien ziehen diese Operationen längst nicht mehr an. Und faktische Probleme wie der Umstand, dass es zu wenige Spenderherzen gibt, haben nicht das Potenzial, die Fantasie von Journalisten und Publikum anzuregen.
Bedarf nach Klärung
Zwei Themen rücken durch die Herztransplantationen ins öffentliche Bewusstsein und haben auch juristische Folgen. Zum einen geht es um die Frage, ob es die Einwilligung der Angehörigen für eine Organentnahme braucht, und zum anderen um die genaue Definition des Todes.
Wann ist ein Mensch tot, oder, anders gefragt, wann lebt er? Das Hirn reagiert sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel. Wird es nur wenige Minuten nicht durchblutet, stirbt es unwiderruflich ab. Solange das Hirn lebt, lebt der Mensch. Diese für uns nicht mehr aussergewöhnliche Lebens- und Todesdefinition ist in den 1960er-Jahren noch neu. Bis dahin ist ein Mensch tot, wenn sein Herz aufhört zu schlagen. Doch mit dem Aufkommen von Maschinen, welche die Körperfunktionen aufrechterhalten können und weil die Transplantationsmedizin solche Fortschritte macht, wird die Klärung des Todesbegriffs im juristischen Sinne dringend. Åke Senning und Felix Largiadèr schlagen Mitte der 1960er-Jahre der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften vor, Richtlinien zu diesem Thema zu formulieren. Die Arbeit daran ist noch im Gange, als Senning die erste Transplantation durchführt. Die Richtlinien sind zwar noch nicht festgeschrieben, aber den Ärzten sind die Bedingungen für die Diagnose Hirntod klar. Professor Krayenbühl zählt sie an der Pressekonferenz auf: 1. Der Patient ist tief bewusstlos. 2. Er weist keine Reflexe mehr auf. 3. Die Pupillen sind lichtstarr. 4. Er hat keine spontanen Bewegungen mehr. 5. Die elektrische Untersuchung (EEG) zeigt, dass keine spontane Hirnaktivität mehr vorhanden ist.18 Die neuen Richtlinien zur Definition und Diagnose des Todes erscheinen noch 1969. Darin wird der Tod als vollständiger und irreversibler Ausfall aller Hirnfunktionen definiert.19
Zur Frage der Einwilligung der Angehörigen gibt es ein handfestes juristisches Nachspiel vor Bundesgericht. Anfang 1970 reichen die Eltern des Herzspenders, Paul und Luise Gautschi, beim Bezirksgericht Zürich eine Klage ein gegen den Kanton Zürich, Regierungsrat Bürgi sowie die Professoren Krayenbühl und Senning. Sie stellen den Antrag, «es sei festzustellen, dass die am 14. April 1969 an ihrem Sohn vorgenommene Herzentnahme zwecks Transplantation rechtswidrig gewesen sei und gegen die guten Sitten verstossen habe».20 Sie verlangen eine Genugtuungszahlung und Schadenersatz in der Höhe von 10 000 Franken. Man hätte sie als Eltern um ihr Einverständnis bitten müssen. Sie seien in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt worden. Die Klage geht durch mehrere Instanzen und wird am 3. Juli 1975 vom Bundesgericht endgültig abgelehnt. Wenn schon, dann hätte die Ehefrau – von der Gautschi aber getrennt lebte – um die Einwilligung gebeten werden müssen, hält das Gericht fest. Ausserdem hätten die Eltern versichert, dass sie die Einwilligung gegeben hätten, hätte man sie gefragt. Das Gericht erkennt keine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Kläger und auch kein besonders schweres Verschulden der Ärzte.
Dass dennoch eine gewisse moralische Verpflichtung besteht, die Angehörigen zu fragen, zeigen die Reaktionen von Presse und Publikum nach der ersten Herztransplantation und der Umstand, dass das Spital vor der zweiten Herzentnahme die Angehörigen informiert und anfragt. Auch in dieser Frage ist seither viel geschehen. Eine Organentnahme ohne Einwilligung eines nahen Angehörigen ist heute nicht mehr möglich. Das Transplantationsgesetz des Bundes von 2004 schreibt vor, dass, falls es keine dokumentierte Zustimmung oder Ablehnung des Spenders gibt, die ihm am nächsten verbundene Person angefragt werden und ihr Einverständnis zur Organentnahme geben muss.21
Ganz andere Dramen
Das Drama der zwei ersten Herztransplantationen in der Schweiz endet letztlich still und leise, und eigentlich war alles ganz anders. Je nachdem, aus welcher Warte man es betrachtet. Womit die Öffentlichkeit gefüttert wird, ist nur die Spitze des Eisbergs oder der Höhepunkt einer gut 15 Jahre dauernden Entwicklung, in der man in den USA und in Schweden beginnt, am offenen Herzen zu operieren. Möglich wird das nicht zuletzt durch Fortschritte in der Anästhesie, die länger dauernde Operationen ermöglichten, und durch viele einzelne Innovationsschritte. Dazu gehören die verschiedenen Operationstechniken ebenso wie die Entwicklung der Hypothermie – das Herunterkühlen des Körpers, um das Herz für kurze Zeit stillzulegen – oder der Herz-Lungen-Maschine, die während der Operation die Funktion von Herz und Lunge übernehmen kann. Ruth Gattiker gewichtet die erste Herztransplantation deshalb auch anders: «Für die Öffentlichkeit war das eine grosse Sache damals. Weil es um das Herz ging, hat man so ein Gewese darum gemacht und vieles hineininterpretiert. Aber für uns war das anders. Das sieht man ja auch daran, dass es chirurgisch gar keine so schwierige Operation war. Das Schwierige hatten wir in den vielen Jahren zuvor erlebt. Die Herztransplantation war eine Art Höhepunkt einer langen Entwicklungszeit.»
Zu Ende sind die Entwicklungen damit aber noch lange nicht. Sie führen weiter in eine hochtechnisierte medizinische Zukunft, in der einige Jahrzehnte später die meisten Herzprobleme minimalinvasiv behoben werden können. In unserer heutigen, fehlerintoleranten Zeit scheint eine Pionierphase wie in den 1950er- und 1960er-Jahren