Ruth Gattiker. Denise Schmid
Und selbst da hielten sich die Medien am Ende zurück. Man nahm den Tod der beiden Herzempfänger nüchtern hin. Niemand rief laut, dass es ein Experiment war, oder stellte Fragen nach der Ethik. Und Senning selbst war vernünftig genug, es bei zwei Versuchen zu belassen. Wenig Regulation, der Nimbus der unantastbaren «Götter in Weiss» und eine Öffentlichkeit, die weniger kritisch war als die heutige, trugen dazu bei, dass die Pioniere mehr oder weniger ungestört Neues ausprobieren konnten.
Ein Fräulein Doktor
Ruth Gattiker erlebt diese Pionierphase hautnah. Sie beginnt 1961, in Stockholm mit Åke Senning zu arbeiten, und sieht, wie zu Beginn fast jeder zweite Herzpatient auf dem Operationstisch liegen bleibt, weil vieles noch unerprobt ist und man auch nur schwer Kranke operiert. Sie erlebt, wie Senning dann in Zürich aus Sehnengewebe des Oberschenkels im Operationssaal dreiteilige Herzklappen «bastelt», die er anschliessend implantiert. Oder wie er die komplizierte Operation der Transposition der grossen Gefässe mit unnachahmlichem Geschick bewerkstelligt. Sie ist mit dabei, als in Zürich eine Eisbadewanne entwickelt wird, in der Säuglinge mit angeborenem Herzfehler, in Eiswürfeln liegend, so weit heruntergekühlt werden, dass sie während einer Stunde bei Herzstillstand und ohne die Gefahr einer Hirnschädigung operiert werden können. Das sind schon vor der Herztransplantation einige grosse Momente, von denen die Öffentlichkeit nichts mitbekommt. Sie wären auch nicht so einfach in reisserische Schlagzeilen zu fassen gewesen, retten aber letztlich mehr Menschen das Leben als das medienwirksame Thema Herztransplantation.
Gattiker selbst ist nicht Chirurgin, obwohl das ursprünglich ihr Plan war. Ihr Weg hat sie in eine andere Richtung geführt, nicht zuletzt, weil sie eine Frau ist und sie sich Mitte der 1950er-Jahre, als sie sich für eine Fachrichtung entscheiden muss, ausrechnet, dass sie in der männerdominierten Chirurgie vermutlich weniger Aufstiegschancen haben wird als in dem damals noch jungen Fach Anästhesie. Und ehrgeizig ist sie von Kindsbeinen an. Mit dieser Eigenschaft, ihrem Willen und ihrer Intelligenz hat sie sich ihre Karriere erarbeitet. Der Artikel «Ein grosser Tag für die Schweizer Chirurgie», der nach der Herztransplantation am 15. April 1969 im Tages-Anzeiger erschienen ist (siehe Buchumschlag), dokumentiert ihren beruflichen Status als gleichgestellte Ärztin neben ihren männlichen Kollegen. Auf der Fotografie sitzt sie links mit ernster, aufmerksamer Miene und schaut in die gleiche Richtung wie Åke Senning, der das Bild im Vordergrund dominiert. Zwischen den beiden und etwas im Hintergrund die Kollegen Linder und Rothlin, die sich unterhalten. Professor Krayenbühl ganz rechts. Eine subtile Nuance findet sich dennoch, und zwar in der Bildunterschrift. Dort wird sie als «Frl. Dr. Ruth Gattiker» bezeichnet, ohne dass ihre Funktion oder ihr Rang erwähnt werden, immerhin ist sie Oberärztin und Anästhesistin. Linder wird dagegen als Oberarzt bezeichnet, Rothlin als Kardiologe, Senning und Krayenbühl mit ihrem Professorentitel.
Die Bezeichnung «Fräulein» ist 1969 noch lange nicht tot. Ruth Gattiker mag auf der Fotografie als gut aussehende Frau in dieser Herrenrunde zwar herausstechen, aber ein «Fräulein Doktor» ist damals in dieser Kombination der Worte nicht ungewöhnlich. Damit wird signalisiert, dass sie eine akademisch gebildete Frau ist, die sich für den Beruf und gegen Heirat und Familie entschieden hat. Die Bezeichnung «Frau Doktor» ist dagegen noch bis in die 1980er-Jahre vor allem üblich für die Ehefrauen von Männern mit Doktortitel. Deshalb stiften Frauen, die selbst einen Doktortitel führen und verheiratet sind, als «Frau Doktor» mehr Verwirrung als ein «Fräulein Doktor».
Ruth Gattiker fühlt sich im Kreis ihrer Kollegen völlig gleichwertig. Man bildet eine Arbeitsgemeinschaft, in der sie sich ihre Anerkennung durch überdurchschnittliche Leistungen erarbeitet hat. Ihre Habilitationsschrift steht zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Abschluss. Sie wird ein halbes Jahr später der Medizinischen Fakultät vorgelegt werden. 1970 wird Gattiker Privatdozentin, ab 1976 führt sie einen Professorentitel.
Der Unterschied zwischen ihr und den vier Männern liegt, wie es die Bezeichnung «Fräulein» deutlich macht, nicht im Beruflichen, sondern im Privaten. Die vier Ärzte sind alle verheiratet und haben Kinder. Gattiker dagegen ist unverheiratet und hält ihr Privatleben bedeckt. Die Kollegen wissen wenig bis nichts darüber, höchstens, dass sie mit einer Chirurgin befreundet ist, ebenfalls ein Fräulein Doktor, vermutlich eine Gleichgesinnte. Gibt oder gab es Männer im Leben der attraktiven, im Umgang mitunter etwas rauen und selbstbewussten Mittvierzigerin? Gemunkelt wird immer, Genaues weiss man nicht. An Anlässe im gastfreundlichen Haus von Åke Senning oder im Spital kommt Ruth Gattiker allein. Es wird nicht gefragt, und sie erzählt nichts. Ruth Gattiker ist ein Fräulein Doktor, das für ihren Beruf lebt, so scheint es von aussen, und sie selbst will auch, dass es so scheint. Der Rest ist ihr Privatleben, ihre Burg, die sie hartnäckig verteidigt.
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