Jeder Frau ihre Stimme. Группа авторов

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Frauen in der Antike ist die Rede, von Kaiserin Catharina II., Madame Roland und Germaine de Staël-Holstein geb. Necker, von Herrscherinnen, Revolutionärinnen, Gelehrten also: Niemand soll behaupten können, Frauen seien qua Geschlecht unfähig.

      Es wird natürlich trotzdem behauptet. So räumt zum Beispiel der Rechtsgelehrte Johann Caspar Bluntschli 1876 ein, die Frauen hätten durchaus das Recht, «gut regiert zu werden». Mehr aber wäre zu viel, denn auch Kinder hätten dieses Recht, und «dennoch leitet Niemand daraus ein Stimmrecht der Kinder im State [sic] ab». Das Regiertwerden nämlich verlange «keine besondere Fähigkeit», während die Kontrolle der Regierung «die persönliche Fähigkeit zur Ausübung» des entsprechenden Rechts voraussetze.2 Persönliche Fähigkeit ist nun aber bei Bluntschli alles andere als eine Frage der Person – dies würde ja auch dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts widersprechen. Es ist eine Frage des Geschlechts. Denn im Bereich des Politischen regiert eine Tatsache von besonderer Art: nämlich «die männliche Natur des States [sic], als der bewussten Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung des Volks, welche die Kraft des männlichen Charakters und Geistes nicht und niemals entbehren und nicht durch die Beimischung der weiblichen Empfindsamkeit und Schwäche verdorben werden dürfen».3

      Ist also das Menschsein hinreichende Begründung für die aktive Staatsbürgerschaft, wie Leuthy argumentiert, oder gibt es eine Bedingung namens «Männlichkeit», wie Bluntschli behauptet? Diese Streitszene liegt offen da, seit die Rechte des homme et citoyen erfunden und verkündet und die Frauen – auch die Armen und Menschen anderer Hautfarbe, Religion und Geschichte – davon ausgenommen worden sind.4 Denn was heisst das? Doch nichts anderes, als dass es Menschen gibt, die nicht die Rechte von Menschen haben, weil Menschenrechte zwar universal, aber nicht alle Menschen fähig sind, sie wahrzunehmen. Einwurf und Einspruch gehen hin und her, von Anfang an ist alles da: das Postulat der Universalität, die ungleiche Verteilung von Rechten und die Kritik daran. Die Schieflage ist eingerichtet, der Streit angezettelt. Seither gibt es die, «die Rechte nicht haben, die sie haben, und Rechte haben, die sie nicht haben».5 1872 gründet Marie Goegg-Pouchoulin, Berner Patrizierin, zusammen mit Julie von May, Genfer Radikaldemokratin, die Association pour la défense des droits de la femme. Es gibt sie, die Frauenrechte, man muss sie nur verteidigen.

      Immer schon …

      Es gibt auch eine Ausflucht: die Idee vom geschichtlichen Fortschritt. Sie gewährt Aufschub. Man kann in Aussicht stellen, dass diejenigen, denen das Recht wegen Unfähigkeit verweigert wird, fähiger werden. Nicht alle können auf einmal berücksichtigt werden, heisst das, nur die einen nach den andern, nach Massgabe ihrer Reife. Oder: Es gibt verschiedene Sorten von Rechten, nicht alle können auf einmal wahrgenommen werden, nur eines nach dem andern, und das politische Recht ist die Krönung. Man kann auch den Kreis der Befugnisse schrittweise weiter ziehen: zuerst im Kirchen-, Schul- und Armenwesen, dann in allen Belangen der Gemeinde, dann im Kanton, dann auf Bundesebene. Dereinst das Ganze, aber zuerst die «Schulsachen», findet Carl Hilty 1897.6

      Doch Demokratie wächst nicht wie ein einmal gesetzter und dann sich selbst überlassener Keimling in die Höhe und Breite. Sie ist ein umkämpftes Gut, wird verweigert und erstritten. Müssen sich die Frauen, fragt Iris von Roten 1959, wirklich sagen lassen, sie seien «für die politischen Rechte nicht reif genug»? Eine «Argumentiererei» sei das. Sie gleiche «aufs i-Tüpfchen der Bekämpfung der Volksrechte» im 19. Jahrhundert und sei auch nicht mehr wert: eine «ölige Mahnerei der Frauen zur Geduld», die nur schlecht puren Unwillen verbirgt.7 Also ist es umgekehrt: Die Männer sind nicht reif genug, die Rechte zu teilen, die ihnen doch nicht allein gehören.

      Und wie passt die Idee des geschichtlichen Fortschritts überhaupt zur Schweiz? Hat nicht der neue Bundesstaat von sich behauptet, immer schon die alte Landsgemeinde gewesen zu sein?8 Auf dem Gedenkblatt, das die Einführung der Bundesverfassung vom 12. September 1848 visuell flankiert, überreicht wohl die Helvetia dem Volk die Verfassung. Aber hinter – und über – ihr steht der alte Eidgenosse, in seiner Hand den Lorbeerkranz, der über ihrem Kopf nur schwebt. In der modernen Schweiz ist das Neue auch das Alte. Und so wird der Bundesstaat männlich, wie es auch die alte Eidgenossenschaft war, als Mitsprache und Mitbestimmung nicht an das Individuum, sondern an Stand und Haus geknüpft waren.9 Hätte es jetzt anders kommen können, da Rechte nun an den einzelnen Menschen vergeben werden – und die Weiber auch Menschen sind?

      Als Emilie Kempin-Spyri, Jura-Studentin im fünften Semester, 1886 dem Bundesgericht die Frage stellt, wie das gehen soll, dass die Frauen mitgemeint sind, wenn in den Gesetzen von den Pflichten des Staatsbürgers die Rede ist, nicht aber, wenn es um die politischen Rechte geht; wie es also sein kann, dass unversehens aus einem generischen ein spezifisches Maskulinum werden kann (und wie man dann eigentlich wissen soll, wann was der Fall ist), lautet die Antwort: Wenn die Frau Kempin-Spyri aus der Verfügung der Bundesverfassung, es gebe in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, die «volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter» folgern wolle, so sei das eine Auffassung «ebenso neu als kühn» und genau deshalb nicht zu billigen: Sie verstosse gegen nichts weniger als die «gesammte geschichtliche Entwicklung».10

      … und immerdar

      Nicht nur in der Schweiz wird weibliche Unfähigkeit behauptet, um damit den Ausschluss der Frauen zu begründen. Aber hier ist dieser überdies historisch beglaubigt. So alt wie das republikanische Prinzip der «Gleichen unter Gleichen» ist in der Schweizer Geschichte dessen Verkörperung durch die Männer. Die Entwicklung, von der das Bundesgericht spricht, verbindet also Herkömmliches und Neues miteinander. Sie meint nämlich: immer mehr Männer. Und je weiter die Kreise unter diesen gezogen werden (von den Gemeindebürgern auf die Hintersassen und Zugezogenen, von den Stadtbürgern auf die Landbewohner, von den Hablichen auf die wenig Bemittelten, von den Christen auf die Juden), desto schwieriger wird es für die Frauen.

      Jedes Mal, wenn sich berufen wird auf Urkunden oder das natürliche Recht, wenn die Hebel angesetzt werden zu mehr Freiheit, die allen gehören soll, damit daraus mehr Gleichheit erwachse, jedes Mal haben Frauen Anlass zur Frage: «Und wir?»11 Und jedes Mal, wenn mehr Demokratie unter Männern gelingt, verlieren sie mögliche Verbündete.12 Immer grösser wird das Paradox, das Julie von May 1872 auf den Punkt bringt: «[D]as mündigste Volk Europa's [sic] betrachtet und behandelt seinen weiblichen Bestandtheil, wenn nicht völlig konsequent im Leben, doch vor dem Gesetz und in der Sitte, als das unmündigste Kind.»13

      Auch in den 1860er-Jahren melden sich Frauen zu Wort. Eine Bewegung – die Historiker werden sie die «demokratische Bewegung» nennen – verlangt im Namen des «Volkes» mehr Mitsprache, eine direkte, nicht nur eine repräsentative Demokratie. Blitzschnell werfen die Sissacherinnen ein: «Die Frauen werden ja wohl auch zum Volke gezählt werden.»14 Einige Jahre später unterzeichnen im Zürcher Oberland «mehrere Frauen aus dem Volk» ihrerseits eine Petition. Sie klagen an: Eine «allseitige Erweiterung der Volksrechte» werde verkündet, gross täten die «grossen Männer der Schöpfung», und keiner spreche von den Frauen, «niemand gedenkt ihrer verkümmerten und unterdrückten Menschenrechte».15

      Zu hoffen wagen sie nicht, die Zürcherinnen, dass die Männer zur Einsicht kämen oder doch wenigstens «etwas mehr Bescheidenheit in ihren privaten und öffentlichen Freiheitsmanifestationen» an den Tag legen möchten. Denn sie halten die Menschenrechte für unteilbar und verlangen «Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen». Fast hätten die Sissacherinnen ein paar Jahre früher dasselbe gefordert. Zumindest gingen so damals die Gerüchte im Baselbiet, weshalb die aus dem Waldenburgertal verlauten liessen: «Zwar verlangen wir nicht allgemeines Stimmrecht, statt dessen aber: 1) dass unsere Unterschrift gesetzliche Gültigkeit habe ohne Beistand, 2) gleichmässige Teilung der Hinterlassenschaft; 3) dass wir leichter freie Mittelverwaltung erlangen können.»16

      Wenn es also Menschenrechte gibt, dann gibt es auch Frauenrechte. Sie sind unteilbar, und dennoch wird nicht immer alles gefordert. Nicht das eine, aber das andere, nicht das Stimmrecht, aber Mündigkeit und Gleichbehandlung in ökonomischen Belangen. Aus welchen Gründen? Ist das Resignation?


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