Jeder Frau ihre Stimme. Группа авторов

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behauptet ja, die Frauen seien keine Menschen – also Tiere zum Beispiel oder Pflanzen. Allerdings seien sie etwas weniger fähige Menschen, unmündig, das wird behauptet. Und diese Unmündigkeit wird genau dort verfügt, wo es um Unterschriften, das Erben und die Mittel geht.

      Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stellt sich nämlich die Frage, ob auch die Frauen als individuelle Rechtssubjekte anzusehen sind. Hier wird es zu Änderungen kommen. Ausser in genau einem Fall, für den, wie der Rechtsgelehrte Eugen Huber 1886 schreibt, gilt, dass der Mann «immerdar das entscheidende Wort zu sprechen haben» wird – dieser Fall ist die Ehe.17

      Mehr als das Stimmrecht

      Bevor Frauen in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts Vereine gründen, um das Stimmrecht für sich einzufordern, ist also etwas anderes dringlicher. Julie von May bringt es 1872 mit Blick auf die anstehende Totalrevision der Bundesverfassung auf den Punkt: «die unbedingte Gleichstellung der Frau mit dem Manne in allen sozialen und privatrechtlichen Verhältnissen». Ausformuliert heisst das: gleiche Ausbildung, gleicher Lohn bei gleicher Arbeit, gleiches Erbrecht, gleiches Eigentums-, Verwaltungs- und Verfügungsrecht, Vermögensunabhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann, Gleichheit im ehelichen Erbrecht und gleiche elterliche Rechte für die Mütter. Die «politischen Rechte» nimmt von May explizit aus. Stattdessen: «Alles was uns fehlt und […] Alles was uns bis jetzt verweigert worden ist.»18

      In einem gewissen Sinn ging es hier tatsächlich um alles. Ohne zivile – also ökonomische und soziale – Rechte wurden die Frauen zu Wesen erklärt, die ohne Männer nichts sind, weil sie nicht mal über ihr Eigenes verfügten. Nicht über ihre Güter, nicht über ihr Handeln. Von hier ging alles aus, und hier war alles verkehrt. Denn Frauen trugen ja doch bei zum Lebensunterhalt einer Familie, als Heimarbeiterinnen, bestritten ihn manchmal auch allein, als Ledige oder Witwen, sie erbten Bauerngüter, betrieben Gewerbe. Überall war ihre Arbeit und waren ihre Vermögen die ihren, und doch waren sie es nicht: Für Verheiratete handelte der Ehemann, für Unverheiratete ein behördlicher Vormund. 1846 und 1847 schon haben Bernerinnen zwei Petitionen zur Abschaffung der sogenannten Geschlechtsbeistandschaft vorgebracht, die erste zurückhaltend, die zweite, aus dem Emmental, spricht von «Freiheit» und «Emancipation».19 Sie erhielten Recht, andere Kantone folgten, aber erst 1881 verfügte der Bund für alle Kantone die «persönliche Handlungsfähigkeit» der unverheirateten Frauen.

      Nur der unverheirateten. Den verheirateten Frauen bescheidet Eugen Huber 1881 im Vorgriff auf das Schweizerische Zivilgesetzbuch, das 1907 verabschiedet und 1912 in Kraft treten wird, sie sollen zwar wie die ledigen Frauen «handlungsfähig sein, aber gewisse Handlungen nicht vornehmen dürfen». Vor allem ihre Erwerbstätigkeit untersteht der Einwilligung des Ehemannes.20 Fast überall in Europa werden zu diesem Zeitpunkt neue Privatrechtskodifikationen geschaffen oder bestehende revidiert, und die Frauen wissen, wo es um alles geht. Sie lassen sich ausbilden in den Rechtswissenschaften, mischen sich ein, schreiben und argumentieren. In der Schweiz verlangen sie Einsitz in die vorbereitende Kommission, wo manche Mitglieder schon Hubers Entwurf zum neuen Zivilgesetzbuch «zu feministisch» finden.21 Man lässt die Frauen nicht an den Tisch, und am Schluss entscheidet das Bundesparlament, zusammengesetzt aus Männern. Für die Ehe gilt bis auf Weiteres: «Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.»22

      Arbeiterinnen sind sie alle

      Aber die Frauen wirtschaften weiter, die verheirateten und die unverheirateten, gegen Lohn oder unbezahlt, ausgebildet oder angelehrt. Und manchmal legen sie die Arbeit nieder. 59 Zigarrenarbeiterinnen sind es in Yverdon, vom 23. Mai bis zum 1. Juni 1907. Sieben von ihnen haben eine Gewerkschaftssektion gegründet, werden entlassen, da treten die anderen in den Streik. Erst als sie auf Entschädigung aus der Streikkasse verzichten, nimmt die Gewerkschaft der Lebens- und Genussmittelarbeiter sie auf. Währenddessen gewährt der Fabrikdirektor der nun dringend benötigten männlichen Belegschaft genau die Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, welche die Arbeiterinnen verlangen.

      Ausserdem, heisst es, habe er die städtische Krippe angehalten, die Kinder der Streikenden nach Hause zu schicken. So können die Frauen keine Arbeit anderswo annehmen.23 «Vier mal Sklavin ist heute die in Abhängigkeit arbeitende Mutter», steht in der Zeitung der Arbeiterinnen. Vier Mal: Sklavin des Unternehmers (der sie aussperrt und ihr den Erwerb an ihrem Wohnort verunmöglicht), Sklavin des Mannes (der über den Wohnsitz der Familie verfügt und sie fernhält vom Erwerb andernorts), Sklavin des Kindes (das ihre stete Aufmerksamkeit verlangt und sie an die Wohnung bindet), Sklavin des Staates (der Steuern von ihr fordert – «und Soldaten! und der diese Soldaten, ihre eigenen Kinder, mit ihrem eigenen gesteuerten Geld gegen sie führt, wenn die Frau aufsteht für ihr Recht»). Vier Mal verfügt sie nicht über sich, ist eine Festgesetzte in Raum und Zeit. Wie alles miteinander zusammenhängt und im Fieber der Ereignisse deutlich wird!

      Manchmal legen sie die Arbeit nieder, und manchmal werfen sie auf dem Markt Gemüsekörbe um. Wem, wenn nicht ihnen, fällt auf, wie die Lebensmittel teurer werden, in den Kriegsjahren. Zu teuer für die in den Städten, die ohnehin zu wenig haben.24 Sie kochen und verwalten das Familienbudget, sie kennen und nehmen das Mass der Preise. 1916 geht es nicht mehr. Sie werfen die Körbe um, setzen die Preise selbst fest, den Erlös übergeben sie den Marktfrauen. 1918 kommt es zu «Hungerdemonstrationen»; jetzt unterstützen die bürgerlichen Frauen die Frauen aus der Arbeiterbewegung. Dass sie Töpfe und hungrige Mägen füllen müssen, verbindet sie. Auch mit den Bäuerinnen. Im Broyetal gründen 39 Frauen die Association des productrices de Moudon, um den Zwischenhandel auszuschalten, der die Dinge verteuert. Es gilt, Fugen zu schliessen zwischen Produktion, Verteilung und Verbrauch. Vielleicht auch: Ketten aus Frauen zu bilden, einen anderen Kreislauf einzurichten. Die Bäuerinnen aus Moudon werden verlacht, ein Leserbrief nennt sie «ces dames qui produisent».25 Als wäre Widersinn, was man nicht wahrhaben will.

      Denn das verbindet fast alle: Was die Frauen tun, in der Fabrik, in den Haushaltungen, an den Küchentischen, die zum Strohflechten so gut sind wie zum Gemüserüsten, zum Beaufsichtigen der Hausaufgaben der Kinder so gut wie zum Nachführen der Rechnungsbücher, was sie tun, ist selbstverständlicher Teil des Überlebens und guten Lebens von Familien. Das, wofür sie Geld erhalten, und alles andere auch. «Deshalb», schreibt Betty Farbstein 1910, «sollte auch die Hausfrau Anspruch haben auf eine angemessene Entschädigung, über die sie nach Gutdünken verfügen kann».26 Stattdessen verschwindet das alles mehr und mehr hinter dem Trompe-l’Œil des männlichen «Alleinernährers». In der Statistik werden die Frauen zu «Abhängigen» oder «Ernährten».

      Nichts könnte falscher sein. Sofort wird Einspruch eingelegt: Wo wäre die Volkswirtschaft ohne die Arbeit der Frauen? 1928 organisieren ihre Verbände und Vereine eine «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», die sie 1958 wiederholen werden. Und damit nicht alles und jedes über sie behauptet werden kann, nehmen sie das Argumentieren mit Zahlen in die eigenen Hände, rechnen, deuten und erstellen Studien. Es gibt die Arbeit der Frauen, sagt Margarita Schwarz-Gagg, erste Frau in der eidgenössischen Fabrikkommission, und sie ist normal. Oder gilt doch etwas nur für sie? «Die Frauenarbeit hat kein Mass und keine Zeit», hatte Betty Farbstein 1910 geschrieben.27

      Was zu tun war, und wie es kam

      Währenddessen werden nun für das Frauenstimmrecht Vorstösse eingereicht, in Gemeinden und Kantonsparlamenten, kantonale Volksinitiativen gestartet und Petitionen auf Bundesebene; im Nationalrat formuliert man Motionen und verkleinert sie zu Postulaten. Der Bundesrat steckt sie in die Schublade. Weltkriege kommen dazwischen, bald existiert das Frauenstimmrecht rund um die Schweiz, auf der halben Welt. Nicht überall ist es bedingungslos, mancherorts wird es an die Hautfarbe geknüpft. Die Schweizerinnen haben für das Frauenstimmrecht Vereine und einen Verband gegründet.28 Im Jahr 1959 wird er fünfzig Jahre alt, und 66,9 Prozent des Männerstimmvolks verwerfen das Frauenstimmrecht in der ersten eidgenössischen Abstimmung.29

      Längst sind die Frauen zu diesem Zeitpunkt «Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht», wissen sich zu bewegen in den Vor- und Umhöfen der Macht, in Vernehmlassungen und Kommissionen. Schalten sich ein,


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