Jeder Frau ihre Stimme. Группа авторов

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vom Getriebe und Gebälk der demokratischen Institutionen liegt ein Alltag, der mit dem Politischen verknüpft ist. Das wird zwar geleugnet. Doch es liegt auf der Hand. Lebensmittel und Bücher gehen durch Hände, Ideen setzen sich in Köpfen fest, der Lohn wird gezählt und mit der geleisteten Arbeit verglichen, auch mit der, die in den Knochen steckt, nicht vergütet wird und doch alles am Leben erhält. In jedem Moment steht auf dem Spiel, wie Güter und Anerkennung verteilt sind, wer wohin gehört, bleiben oder gehen kann und Anteil woran hat.

      Deshalb ist vieles Protest, und seine Formen sind vielfältig: laut und lautlos, spontan und von langer Hand vorbereitet, handgreiflich oder ausgesprochen. Leiser Spott geht immer. Gesten und Worte reihen sich aneinander, knüpfen ein Gewebe aus Momenten; augenblicklich kann aus Alltag Ereignis werden, aus Routine Empörung und Forderung. Nichts schlummert, aber jederzeit kann die Sicht auf die Dinge kippen. Es fängt immer dort an, wo es eine zu sich selbst oder einer anderen sagt: wie die Verhältnisse liegen und warum sie anders sein müssten – «aus Gründen der Gerechtigkeit».31 Manchmal sind sie eine Handvoll, manchmal viele, die ausmachen, wie ein Faden verläuft. Sie ziehen daran; bei Lichte betrachtet ist er rot.

      Nie, wenn sie sich zusammenschliessen, ist es für immer. Es ist für den Tag, das Jahr, für eine bestimmte Forderung oder eine Stunde. Nie, wenn sie sich zusammenschliessen, sind alle dabei, manchmal nicht mal viele, oft sind sie sich uneinig. Auch sie unterscheiden und teilen, die einen vergessen die anderen, oft die Fremden. Die Frauen in den herrschaftlichen Wohnungen wünschen sich Dienstbotinnen, denen sie weniger Freiheit zutrauen als sich selbst, deren Arbeit sie geringer schätzen als die eigene. Die einen erklären sich zu Expertinnen und halten andere Frauen für schlechte Mütter, solche, die nicht verheiratet sind oder die es an keinem Wohnort hält. Manche wähnen andere illoyal, mehr ihrem Stand und ihrer Klasse verpflichtet als der gemeinsamen Sache. Manchmal misstrauen sie einander. Und manchmal überwinden sie, was sie trennt, nicht um des Überwindens willen, sondern weil sie einen Faden zu fassen kriegen, der durch alles hindurchläuft.

      Man sagt, ihre Anliegen seien nachrangig, ihr Menschsein anders, ihre Geschichte eine Fussnote. Adams Rippe, der Mensch und sein Weib.32 Nichts ist weniger wahr. Sie sind dahin versetzt, von wo aus die Sicht klar ist: Der angebliche Mensch ist nur ein Mann, und alles, was sich ganz und allgemein gibt, ist nur halb und partikular. Der Schleier reisst, und es geht ganz einfach. Wenn ihnen die Menschenrechte verweigert werden, erfinden sie die Frauenrechte. Wenn Teilhabe ans Volk geknüpft wird, ruft sich das Frauenvolk ins Leben. Wenn man ihnen einen Platz verweigert, erfinden sie ein neues Gefüge. Und wenn man behauptet, sie hätten keine Vergangenheit, schreiben sie die Geschichte neu.

      Sie seien unfähig zur Politik, wurde über die Frauen gesagt. So sind sie zu politischen Subjekten geworden.

      1970er-Jahre

      Elisabeth Joris

      Das Boulevardblatt Blick unterstützt zwar die Kampagne für das Frauenstimmrecht 1970/71. Als es dann aber so weit ist, nutzt es die Gunst der Stunde: «Sex sells» werden sich die männlichen Redaktoren gedacht haben. Langhaarig, blond und kurvig muss sie sein. Das Sträusschen spielt auf eines der Abstimmungsplakate an. 1978 führt der Blick das «Seite 3-Girl» ein. 2016 verschwinden die leicht Bekleideten auf Seite 3 endgültig.

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      Die ersten elf Nationalrätinnen mit Nationalratspräsident Wil liam Vontobel, Bern 1972 (v. l.n.r.): Hanny Thalmann (CVP, SG), Gabrielle Nanchen (SP, VS), Hanna Sahlfeld-Singer (SP, SG), Nelly Wicky (PDA, GE), Liselotte Spreng (FDP, FR), Martha Ribi (FDP, ZH), Lilian Uchtenhagen (SP, ZH), Tilo Frey (FDP, NE), Elisabeth Blunschy-Steiner (CVP, SZ), Josi Meier (CVP, LU), Hedi Lang (SP, ZH).

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      Die klassische Hausfrau ist 1971 das gängige Rollenmodell für verheiratete Frauen mit Kindern. Auch für solche ohne Kinder. 1971 sind rund 55 Prozent der Frauen zwischen 30 und 64 Jahren nicht erwerbstätig. Diese Quote sinkt bis 2019 auf 18 Prozent. Doch die heutige hohe Erwerbsquote von über 80 Prozent täuscht. Viele Mütter sind in Teilzeit erwerbs tätig und erledigen immer noch rund 70 Prozent der Haus arbeit, die Männer 20 bis 30 Prozent.

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      1971 beträgt die Lebenserwartung für Frauen 76 Jahre, für Männer 70 Jahre. Heute liegt sie für Frauen bei 85 Jahren und für Männer bei 81 Jahren. Nicht nur die Lebenserwartung ist stark gestiegen, auch bezüglich Aussehen und Lebensumstände hat sich das Älterwerden stark verändert. Das verdeutlicht diese Aufnahme aus einem Altersheim von 1974.

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      An der Lavaterstrasse 4 in Zürich entsteht 1974 das erste Frauenzentrum der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) mit der Beratungsstelle Infra (Informationsstelle für Frauen). Hier finden Beratungen zu Themen wie Familienplanung, Abtreibung und Rechtsfragen in ungezwungenem Rahmen statt. Kein Schreibtisch trennt Beraterinnen und hilfesuchende Frauen. Man sitzt auf Augenhöhe bequem zusammen und versteht das Gespräch als Akt der Solidarität und Ausdruck des gegenseitigen Austauschs.

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      Flyer des Frauenzentrums der FBB in Zürich. Elisabeth Joris gehört von 1976 bis 1978 auch zum Beratungsteam und hilft – damals selbst hochschwanger – Frauen, die in Not sind. Helen Pinkus-Rymann, Grafikerin, Mitinitiantin der Beratungsstelle und lange selbst dort aktiv, hat den Flyer gestaltet.

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      Der im Auftrag der schweizerischen UNESCO-Kommission durch das Soziologische Institut der Universität Zürich erstellte Bericht «Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft» hält fest: Die Schweizerin wird in Familie, Beruf, Gesellschaft und Staat diskriminiert. Im Bild die Pressekonferenz vom 25. April 1974 (v. l. n. r. Professor Peter Heintz, Leiter der Untersuchung, Perle Bugnion-Secrétan, Mitglied der Arbeitsgruppe, Jacques Rial, Generalse kretär der UNESCO-Kommission, und die Autoren des Berichts, René Levy und Thomas Held).

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      Mehr als 1000 Frauen aus 80 etablierten Frauenorganisationen nehmen vom 17. bis 19. Januar 1975 am grossen Frauenkongress in Bern teil. Am zweiten Konferenztag dringen Frauen des Antikongresses im Gäbelbach mit Transparenten in die Versammlung ein. Am Ende stimmt eine Mehrheit – gegen den Willen der katholischen Frauenverbände – für eine Fristenlösung in der Abtreibungsfrage.

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      Am Antikongress im Quartierzentrum Gäbelbach nehmen Frauen der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und des Mouvement de libération des femmes (MLF) teil – sie bilden die sogenannte neue Frauenbewegung. Erwartet werden 300 bis 1000 Personen, es kommen aber mehr als 7000. Ihr Protest richtet sich gegen das Motto «Partnerschaft» am grossen Kongress und die Unterbewertung der Frage des Schwangerschaftsabbruchs.

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      Anlässlich des UNO-Jahrs der Frau gestalten 1975 Künstlerinnen gemeinsam mit Amateurinnen im kreativ-feministischen 35-köpfigen Kollektiv die Schau «Frauen sehen Frauen» im Zürcher Strauhof. Es ist eine anarchisch aufbegehrende Ausstellung, die sich kritisch-provozierend mit dem weiblichen Alltag und den vorherrschenden Geschlechterrollen


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