Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
Woran entzünden sich die Streitigkeiten mit der Mutter? Häufig am Thema Kleider. Damit verdienen die Eltern Hutter ihr Geld. Sie kleiden die Menschen in Altstätten ein. Sie wissen, wie man Kleider herstellt und verkauft. Es ist ihr Territorium, ihre Kompetenz und deshalb vielleicht auch ihre offene Flanke. Niemand kennt die Eltern so gut wie die eigenen Kinder. Und so beginnt Gardi, je älter sie wird, ihre Mutter bei diesem Thema herauszufordern. Als Gardi noch klein ist, muss sie sonntags zur Kirche und auf dem Sonntagsspaziergang nach dem Mittagessen Kleidchen und Lackschuhe tragen und darf nicht mit den Brüdern herumrennen. Dann wächst sie heran, und nun soll sie zum sonntäglichen Kirchgang immer das Neueste aus dem Geschäft vorführen. Die Brüder dürfen zwar auch keine Jeans tragen, aber es ist dennoch einfacher. Ein guter Anzug, Hemd und Krawatte reichen. Aber Gardi soll mal den neuen kurzen, dann den neuen langen Mantel tragen. Sie lehnt sich auf, will keine wandelnde Kleiderstange sein. «Meine Mutter und ich hatten jeden Sonntag Krach, es ging darum, was man in die Kirche anzieht. Und man darf nicht vergessen, Altstätten ist nicht Paris, meine Eltern hatten ein Kleinstadtgeschäft. Das meiste war Durchschnitt, es musste ja für eine breite Kundschaft passen. Daneben kauften sie vielleicht noch zwei, drei Modelle ein, die gerade als modisch galten, wenigstens in einer abgelegenen Kleinstadt. Und diesen letzten Schrei sollte ich dann tragen und fand es, je älter ich wurde, desto peinlicher. Selten war mal ein Stück darunter, das ich gerne ausführte. Ich wehrte mich, und es gab oft heftigen Streit. Ich merkte schon sehr früh, dass ich nie durfte, wie ich wollte, und die Mutter hat immer gestöhnt, ich sei von klein auf widerspenstig gewesen.»
Zu den verzweifelten Bemühungen der Mutter, aus Gardi ein wohlerzogenes, braves Mädchen zu machen, passt der Spruch, den sie der Tochter im Januar 1965 sorgfältig in Schönschrift ins Poesiealbum schreibt: «Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab, dies erwartet Deine Mutti».
Ein deutlicher Beleg dafür, was Gardi Hutter in privaten Aufzeichnungen dreissig Jahre später festhält und in den Gesprächen für dieses Buch fünfzig Jahre später erzählt: Sie erfährt als Kind nie bedingungslose Liebe. Anerkennung und Liebe werden in ihrer Erziehung an Voraussetzungen wie Wohlverhalten, Mithilfe und Gehorsam geknüpft. Das provoziert lange Zeit ihren Trotz, worauf die Mutter mit noch mehr Strenge reagiert – eine Abwärtsspirale.
Im Frühling 1966 beendet Gardi Hutter die sechste Klasse in der katholischen Mädchenschule in Altstätten. Sie könnte nun die lokale Sekundarschule besuchen, aber die Eltern beschliessen, dass sich etwas ändern müsse, bevor das widerspenstige Kind völlig aus dem Ruder läuft.
Für die 13-jährige Gardi Hutter, das «Bubenmädchen», das den grossen Brüdern nacheifert, sich ihre Freundinnen selbst aussucht und hinter dem Rücken der Eltern ihrem eigenen Kopf nachlebt, scheint ein Internat die beste Lösung. Betrachtet man aus heutiger Perspektive Gardi Hutters Schulzeugnisse, kann man sich nur wundern, weshalb man sie nicht direkt auf ein Gymnasium sandte. In jedem Fach stehen jeweils eine Fleiss- und eine Leistungsnote. In Fleiss hat sie durchwegs die Höchstnote Sechs. Bei den Leistungsnoten sieht es nicht viel anders aus, da wechseln sich Sechsen und Fünf bis Sechsen ab. Die tiefste Note im letzten Zeugnis der Primarschule ist eine Fünf im Schreiben. Sie ist eine Topschülerin, und ihre Noten spiegeln wider, was sie erzählt: dass sie unheimlich gerne zur Schule gegangen sei und gelernt habe. Doch eine höhere Bildung steht der Tochter erst einmal nicht offen. Und weil es kein Gymnasium vor Ort gibt, gehen auch die Brüder Fredi und Gilbert erst einmal in die Sekundarschule und wechseln danach auf eine Mittelschule etwas weiter weg in St. Gallen oder Sargans. Fredi erzählt, dass sich allerdings nicht die Eltern um seine höhere Bildung gekümmert hätten; es seien die Lehrer gewesen, die ihm aufgrund seiner guten Leistungen nach der Sekundarschule dazu geraten hätten.
Doch bei Gardi geht es nach der sechsten Klasse zunächst mal um ihren Widerspruchsgeist. Das wilde Kind soll gezähmt werden, bevor aus ihr eine noch wildere junge Frau wird. Stella Maris heisst ein katholisches Mädcheninternat in Rorschach. Es liegt nicht allzu weit entfernt, wird von Menzinger Schwestern geführt und geniesst einen guten Ruf. Dort soll sie die Sekundarschule besuchen, und die Nonnen sollen richten, wofür die Eltern zu wenig Zeit haben: aus der eigensinnigen Gardi Hutter eine fromme, wohlerzogene junge Frau machen.
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