Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
Spezialität im Familienleben der Hutters. Ob beim Geschirrabwaschen, abends im Wohnzimmer, auf Autofahrten oder beim Wandern, Familie Hutter singt Volkslieder, Kinderlieder, Wanderlieder, Soldatenlieder und am Jahresende voller Inbrunst Weihnachtslieder – das Repertoire ist gross. Die Mutter hat eine schöne Altstimme und singt oft die zweite Stimme. Zu sechst bildet man schon fast einen kleinen Chor, wobei der Vater eher mitsummt als singt. Gardi Hutter kennt die meisten Liedtexte heute noch und denkt mit leichter Wehmut zurück an die Selbstverständlichkeit, die im gemeinsamen Gesang lag. «Wir hatten bis Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, es gab wenig Ablenkung, die Abende waren lang. Im Sommer spielte man draussen. Im Winter wurde gejasst, wir spielten Eile mit Weile, Mühle und Dame oder beteten Rosenkränze. Man konnte auch einfach mal nur dasitzen und sich etwas umschauen. Undenkbar im Vergleich zur heutigen Intensität unseres Alltags. Es war zwar langweiliger, aber psychologisch sicher einfacher.»
Musik bildet zwar einen Teil des kindlichen Erfahrungsschatzes, aber nur ganz bestimmte Arten von Musik: Volkslieder, Kirchenmusik und Volkstümliches auf Radio Beromünster. Sobald es klassisch wird, wird der Apparat abgedreht. Mozart oder Beethoven gibt es bei Hutters nicht, klassische Musik ist ihnen fremd. Bei Opern halten sich alle die Ohren zu, und modernere Klänge, wie amerikanischer Jazz oder Elvis Presley, gelten als «Schund» und werden von der Familie ferngehalten. «Schund» ist in jener Zeit eine Klammer für alles, was nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch abgründig scheint.
DER REIZ DES VERBOTENEN
1958 kommt die kleine Gardi in den Kindergarten. Den Weg darf sie ganz alleine machen, und sie ist stolz darauf. Der Kindergarten gefällt ihr sehr, insbesondere die kleinen, an die Kinder angepassten Toiletten. An jeder Tür ist ein anderes Märchenmotiv. «Das gefiel mir. Ich überlegte mir vorher immer, ob ich nun heute beim Dornröschen oder bei Schneewittchen mein Pipi machen sollte.» Man darf den ganzen Tag spielen und muss nicht helfen – ein weiterer Vorteil. «Bei uns daheim musste ich ja immer zuerst etwas erledigen, bevor ich spielen durfte.»
Nach zwei Jahren Kindergarten beginnt 1960 die Schule, und die besucht Gardi fast noch lieber. In der katholischen Mädchenschule in Altstätten wird sie in den ersten Jahren von Nonnen aus dem lokalen Kapuzinerkloster Maria Hilf unterrichtet, in Klassen mit vierzig und mehr Kindern. Disziplin ist auch in der Schule das oberste Gebot. Die Nonnen greifen streng durch. Wer stört, muss in die Ecke oder bekommt mit dem Lineal eins auf die Hand.
In der fünften Klasse kommt Gardi zu Herrn Schwarz. Auch er ist streng, aber alle lieben ihn: endlich ein Laie – und ein Mann. Er veranstaltet Wettbewerbe im Kopfrechnen, die entweder Ruthli oder Gardi gewinnen – und immer die Gleichen verlieren. Ihr beginnen die Unterschiede zu Kindern aus ärmeren Familien aufzufallen. «Die Kugelgasse, das war sozusagen das Armenviertel von Altstätten. Eine Strasse auf der anderen Seite der Altstadt mit kleineren, gedrungenen Häusern. Für die Kinder, die von dort kamen, muss die Schule besonders schlimm gewesen sein. Sie trugen den Stempel, Armeleutekinder zu sein; und sie kamen häufig nur schlecht mit. Wie sich die Kinder in der Klasse gruppierten und zusammensassen, spiegelte von klein auf die sozialen Schichten der Stadt. Wer etwas in der Stadt galt und wer nichts, wer verachtet wurde, wer nicht – es hatte immer mit Geld zu tun.»
Gardi Hutter sagt, dass ihre Familie zwar zu einer oberen Schicht im Städtchen gehörte, aber ganz akzeptiert seien sie trotzdem nicht gewesen. «Wir waren Neureiche. Wir hatten zwar das Geld, aber uns fehlte die Kultur. Als Kaufleute gehörten wir zur Kleinbürgerschicht, aber es lag immer eine Art Schatten auf uns.»
Gardi wird zur Pendlerin zwischen den Welten – aus Neugierde, und vielleicht reizt sie das Verbotene. Sie spielt gerne mit Freundinnen in der Kugelgasse, auch weil es ein wenig gefährlich und unberechenbar ist. Die Häuser sind oft dunkel und feucht, es riecht anders. Die Mutter darf nichts davon erfahren. Die Eltern einer ihrer Freundinnen aus der Schule führen ein Wirtshaus. Gardis Mutter sieht auch diesen Umgang nicht besonders gerne.
Am liebsten ist es der Mutter, wenn Gardi mit der Tochter einer der angesehensten Familien im Ort zusammen ist. Die Familie besitzt eine Glaswarenmanufaktur. «Sie hatten ein grosses, ehrwürdiges Haus in der Altstadt und ganz dicke Teppiche auf der Treppe, die jeden Ton schluckten, sodass man keinen Tritt mehr hörte. Es gab Holztäfer, Kerzenständer, Porzellan hinter Glas und eine Bibliothek. Das hat mich alles enorm beeindruckt. Die Mutter servierte uns etwas zu trinken, wenn wir dort waren. Das war für mich unfassbar. Meine Mutter hätte uns Mädchen nie etwas serviert, im Gegenteil. Wenn ich Besuch hatte, musste nicht nur ich mithelfen, sondern auch meine Freundin wurde mit eingespannt.» Und dann gibt es noch eine andere Tochter aus gutem Haus, bei der Gardi oft aus einem ganz bestimmten Grund ist. Mickey-Mouse-Hefte sind bei Hutters verboten – Stichwort: Schund. Jedes gefundene Heft wird sofort verbrannt. «Meine Freundin aber hatte einen Schrank voll davon. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, den Schrank zu öffnen, und da lagen stapelweise Mickey-Mouse-Hefte – das Paradies. Ich nahm gleich zwanzig Hefte auf die Knie und versank darin.»
DU SOLLST NICHT ZWEIFELN
Im März 1962 wird Gardi neun Jahre alt. Bald darauf findet die Erstkommunion statt. Davor muss man das erste Mal beichten und von da an regelmässig einmal pro Monat. Von all der Schuld, die man immer wieder auf sich lädt, kann man sich so befreien. Doch was können neunjährige Kinder schon beichten? Gardis Bruder Fredi erzählt, dass seine Primarschullehrerin, Schwester Klara, damals die Klasse instruiert habe, wie und was zu beichten sei: «Ich glaube an die Kirche. Ich habe geschwatzt, ich hatte unkeusche Gedanken, ich habe genascht.»
Als Gardi so weit ist, schärfen ihr die beiden grossen Brüder ein, dass sie nicht nur schlimme Taten beichten müsse. «Meine Brüder waren gemein. Sie lagen mir ständig in den Ohren damit, dass nur schon ein unkeuscher Gedanke Sünde wäre, weil Gott alles sehe, auch das, was ich nur schnell gedacht hätte. Und so quälte ich mich mit allen möglichen und unmöglichen Sünden. Es war nicht mal erlaubt, daran zu denken, einen Jungen zu küssen. Über Schuldgefühle stolpere ich heute noch. Das war für mich das Schwierigste aus meiner Erziehung: das wieder loszuwerden.»
Die Fotos vom grossen Tag zeigen eine wunderbar brave Gardi auf dem offiziellen Kommunionsfoto im langen, weissen Kleid mit Handschuhen, Rosenkranz, einer Kette mit Kreuz um den Hals und weissem Schleier auf dem Kopf; ein unschuldiger, leicht verkrampfter kleiner Engel.
Das erste Mal die Hostie zu bekommen, sie auf der Zunge zu spüren. Gardi weiss noch, wie ernst und innig dieser Moment in der Kirche damals für sie war: «Die Vorstellung, dass ich mit der Hostie den Leib Jesus in mich aufnehme, daran habe ich nicht nur geglaubt, ich habe ihn gespürt.» Dreissig Jahre später wird sie in ihren Aufzeichnungen festhalten, wie schön sie sich damals in dem weissen, langen Kleid fühlte, wie eine Prinzessin. Aber nach der Kirche fährt die Familie ins Ferienhaus auf den Ruppen, und Gardi muss das Kleid ausziehen. Sie will nicht, aber sie muss: «Ich höre noch meine Mutter schimpfen: ‹Tu nicht so hochmütig.› Ich heulte, erst laut, dann immer leiser und war den ganzen Tag traurig – und bin es heute noch, wenn ich daran denke. Einer der seltenen Momente, in denen ich mich schön gefühlt habe.» Aber: Frömmigkeit war gefragt. Eitelkeit war Sünde und verpönt.
Jungen dürfen nach der Erstkommunion Ministranten werden. «Ich hätte wahnsinnig gerne ministriert, mit grossem Ernst das Weihrauchfass geschwungen und die Glocken geläutet», sagt sie, aber das geht natürlich nicht. Es ist den Jungen vorbehalten, weil Mädchen «von Natur aus schmutzig» sind. Was genau an Mädchen schmutzig ist, dass es mit der Menstruation zusammenhängt, so weit geht die Erklärung nicht, und Gardi ist zu jung, um solche Regeln zu hinterfragen. Später aber entwickelt sie eine grosse Wut auf das körper- und frauenfeindliche Diktat der Kirche.
Doch so weit ist es noch nicht. Als Kind ist Gardi Hutter wie gesagt tiefgläubig. Gott, den Teufel, die Sünde, all das gibt es in ihrer Vorstellungswelt. Bis sich ein erster leiser Zweifel einschleicht. Sie kann sich noch an ihre Empörung erinnern: «Es hiess, dass ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kommen. Sie kommen in eine Zwischenwelt, den Limbus, und bleiben dort für immer und ewig. Ich fand das ungerecht: Sie können doch nichts dafür. Es sträubte sich alles in mir. Ich fragte nach und wurde gerügt. Zweifeln war Sünde und ebenso wenig erwünscht wie Auflehnung. Was