Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
in Altstätten führen und womöglich ausbauen. Aber Irma erklärt, sie sei zu wenig verliebt. Für den Vater kein stichhaltiges Argument, doch Erwin hat Geduld, schreibt sogar einen Brief an Matthias Dietsche und argumentiert darin, dass der Vater Verständnis haben müsse, man könne Irma ja nicht zwingen.
Beide Familien gehören dem ländlichen katholischen Milieu an, das sich nach aussen abschottet und für das strenge moralische Werte und ein ganzer Reigen religiöser Riten prägend sind. Dazu gehören beinahe tägliche Messebesuche, das Beichten, Beten, Andachten, die Sakramente zu Geburt, Heirat und Tod sowie spezielle Feiern an religiösen Feiertagen. Man ist Mitglied in katholischen Vereinen, und braucht man Rat, wendet man sich an den Pfarrer; ist es etwas geheimer, an einen Pater. So macht es auch Irma Dietsche. Sie ist unsicher, wie sie mit ihrem Verehrer Erwin Hutter umgehen soll. Ist es richtig, einen Mann zu heiraten, den man nicht liebt, nur weil praktische Gründe dafürsprechen? Sie erzählt später, dass der Pater ihr ganz pragmatisch geraten habe, sie solle sich einmal auf die Knie des jungen Mannes setzen, der Rest werde sich schon finden. Ob es dieser Rat ist, der die beiden am Ende zusammenbringt, oder einfach eine längere Phase des Kennenlernens, in der doch Zuneigung keimt? Hilft Erwins Geduld oder die Aussicht darauf, gemeinsam arbeiten und sich etwas aufbauen zu können?
Was immer die Gründe sind, dass die beiden am Ende doch zusammenkommen – Irma nimmt den Heiratsantrag schliesslich an. Am 7. Oktober 1946 findet die Hochzeit statt, und die Kombination der beiden Schneider wird sich als glücklich erweisen, geschäftlich und privat. Sie hätten es als Paar gut miteinander gehabt, sagt Gardi Hutter.
Zwei arbeitsame Menschen mit dem gleichen Beruf und von ähnlicher Herkunft, aber unterschiedlichem Naturell finden so nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Er, der Ruhigere, handwerklich rundum Begabte, der die Berge, das Wandern, Reisen und das Skifahren liebt. Er sei ein Optimist gewesen, sagt Gardi Hutter, und auch einer, der Risiken eingegangen sei, was sich am Ende meist ausbezahlt habe. Sie, die Geschäftsfrau durch und durch, perfektionistisch, intelligent, mit viel Bauernwitz; man kann gut mit ihr lachen und singen. Aber sie ist eine Pessimistin, macht sich ständig Sorgen und ist viel vorsichtiger als ihr Mann. Sie ist streng mit sich selbst und mit anderen; an erster Stelle stehen in ihrem Leben der gute Ruf und ihr Glaube.
DAS MODEHAUS E. HUTTER
Erwin und Irma Hutters Sprung von Kriessern nach Altstätten ist nicht riesig. Fünf Kilometer liegen zwischen den beiden Orten, aber das eine ist ein Bauerndorf, das andere ein kleines Städtchen mit damals 8300 Einwohnern und einem mittelalterlichen Ortskern. Die sankt-gallische Gemeinde Altstätten grenzt mit Kriessern an Oberriet. Liechtenstein und die österreichische Grenze sind nicht weit entfernt. Richtung Westen grenzt der Ort an den Kanton Appenzell Ausserrhoden und die Ausläufer des Alpsteins. Und Richtung Norden mündet keine zwanzig Kilometer entfernt der Rhein in den Bodensee. Der Ort hat seit dem 9. Jahrhundert die Stadtrechte, Stadtmauern und eine Verbindung zum Kloster St. Gallen. Man ist hier stolz auf die Rolle als Marktflecken der Region seit dem Mittelalter und die seit vielen Hundert Jahren gepflegte Fasnachtstradition. In vorindustrieller Zeit verhilft der Handel mit Leinwand, später mit Seide und Baumwolle einigen Familien zu grösserem Wohlstand. Im 18. Jahrhundert leistet man sich ein repräsentatives Rathaus, und an der Marktgasse entstehen stattliche Bürgerhäuser mit Bogengängen. Mit dem Bahnbau 1858 entwickelt sich eine heimische Industrie mit Webereien und Stickereiunternehmen, sie dominieren bis zum Ersten Weltkrieg. Die Zeit danach wird wirtschaftlich schwierig. Erst in den 1960er-Jahren zieht die Konjunktur wieder markant an, siedeln sich neue Betriebe in und um Altstätten an, ziehen neue Leute zu. Menschen, die auch Kleider brauchen. Es ist eine überschaubare Kleinstadt, die Wege sind kurz, man kennt sich. Die zwei dominantesten Gebäude im Ort sind die katholische und die reformierte Kirche, gefolgt vom Kloster Maria Hilf.
1948 steht nicht weit von der Obergasse, in einer Kurve am Rande der Altstadt, ein frei stehendes, dreistöckiges Haus zum Verkauf: Trogenerstrasse 24. Im Erdgeschoss lässt sich ein Kleidergeschäft einrichten, darüber kann man wohnen. Das junge Schneiderpaar hat zwar nicht genug Geld für den Kauf, aber Irmas Vater, Matthias Dietsche, bürgt für den Kredit von 53 540 Franken, den die Rheintaler Creditanstalt Au gewährt. 56 000 Franken kostet das Haus, 12 000 Franken werden in den Umbau investiert. Im Wohn- und Geschäftshaus wird 1948 das «Modehaus E. Hutter» eröffnet. Auch für Nachwuchs ist Platz: Irma ist schwanger.
Es müssen intensive Jahre sein, die folgen. Die vier Kinder werden zwischen 1948 und 1955 geboren, und Vater und Mutter packen tüchtig im Geschäft an. Die Familie wohnt im ersten und zweiten Obergeschoss. Gardis Zimmer liegt neben dem Änderungsatelier, und sie erinnert sich, wie sie als Kind oft dort war: «An den Wänden waren die Fadenspulen an Nägeln aufgesteckt. Und die Knöpfe wurden in vielen kleinen Schubladen aufbewahrt. Ich liebte es als Kind, dort zu spielen; ich kann die verschiedenen Knopfarten heute noch beschreiben. Vermutlich haben die zwei, drei Schneiderinnen, manchmal auch ein Schneider, im Atelier auch auf mich aufgepasst.» Die Faszination aus Kindertagen wird nach Jahrzehnten dann zur Inspiration für die Künstlerin.
Die Massschneiderei wird ab Mitte der 1950er-Jahre durch immer mehr Damen- und Herrenkonfektion ersetzt, und den Erstkommunions- und Firmungsanzug kauft man jetzt bei Hutters. Mit dem Laden gelingt den Eltern zwar der soziale Ausstieg aus dem einfachen bäuerlichen Leben ihrer Vorfahren, aber in gewisser Weise setzen sie es unter anderen Vorzeichen fort. Der Gewerbebetrieb und das Wohnen finden wie auf dem Bauernhof unter einem Dach statt. Vater und Mutter arbeiten beide, und die Kinder wachsen nebenher und mittendrin auf. «Meine Eltern arbeiteten jahrelang elf bis zwölf Stunden pro Tag. Es machte ihnen nichts aus. Sie waren es gewohnt vom Hof. Viel Arbeit war Teil des Lebens, galt als Tugend, und wer tüchtig war, konnte es zu etwas bringen», erzählt Gardi Hutter.
In der Schweiz kommen damals mittags alle Kinder von der Schule nach Hause. Der Laden wird für eine gute Stunde geschlossen. Kochen und Essen müssen in der kurzen Zeit effizient über die Bühne gehen. Es klappt, weil Irma Hutter sehr geübt ist: «Meine Mutter war stolz darauf, dass sie ein Mahl für sechs Personen in zwanzig Minuten auf den Tisch stellen konnte.» Und natürlich kocht sie oft vor, sie bereitet die Kartoffeln oder einen Eintopf schon am Vorabend zu, und dann brät sie noch Würste, oder es gibt Käsenudeln. Hauptsache, es geht schnell.
«PUVERLI UND RÜEBLI» BEI DEN GROSSELTERN
Die frühesten Eindrücke aus ihrer Kindheit verbindet Gardi Hutter mit den Erlebnissen auf den beiden Höfen der Grosseltern in Kriessern: «Mein Grossvater Matthias war ein strenger Patriarch. Wir fürchteten uns alle vor ihm.» Seine Frau Katharina ist das Gegenteil. Als still und liebenswert hat Gardi Hutter die Grossmutter in Erinnerung. Sie betreibt den Dorfladen von Kriessern. Als kleines Kind ist Gardi gerne und oft bei den Grosseltern in den Ferien. Dort gibt es gleichaltrige Cousinen zum Spielen, weil der Onkel, der den Hof übernommen hat, auch wieder zehn Kinder hat, und Gardi darf im Laden der Grossmutter mithelfen. Es sind die 1950er-Jahre. Im Dorfladen stehen grosse Säcke mit getrockneten Bohnen, Linsen und Nudeln. Man schöpft die Ware mit Schaufeln in Papiertüten, wiegt sie ab, kassiert. Gardi liebt diese Arbeit zusammen mit der Grossmama. Abends sitzt die Grossfamilie beisammen. Die Schwiegertochter hat gekocht, ein grosser Topf steht auf dem Tisch. Zehn und mehr Menschen tauchen ihre Löffel ein und essen alle gemeinsam aus der grossen Schüssel. Es gibt Hörnli und Apfelmus oder Kartoffeln in jeder erdenklichen Form, als Rösti, Bratkartoffeln, Kartoffelstock, «Gschwellti» mit Käse, und Ribel, ein Rheintaler Maisgericht. In der Erinnerung haften geblieben ist Gardi Hutter das wundervolle silbergraue, lange Haar der Grossmutter, das sie abends aus dem straffen Dutt befreite und mit einem Kamm langsam durchkämmte, aber auch die Rute an der Wand gleich hinter dem Platz des Grossvaters: «Wenn ein Kind etwas ausgefressen hatte, wurde es abends über dem Tisch mit der Rute gezüchtigt. Das war der Erziehungsstil damals. Und als der Sohn den Hof übernahm, sass er dann dort und hat es genauso gemacht.»
Die Dietsches sind eine lebhafte Familie. Sie reden laut und sind manchmal etwas rau, sie lachen und singen auch viel. Ihr Wohlstand kommt nicht nur vom Laden und vom Bauernbetrieb; der Grossvater ist auch Viehhändler. Im Haus herrscht ein ganz anderer Geist als bei Gottlieb und Emma Hutter im Unterdorf, den Grosseltern väterlicherseits. Hier ist alles viel kleiner und enger, ruhiger, aber auch herzlicher. Grossmutter Emma hat 14 Kinder