Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
sie war ja nicht schlau genug, ein gutes Versteck zu finden. Einmal entdecken die Brüder ein Tagebuch, das Gardi führt, lesen es und ziehen sie damit auf. Gardi ist wütend und gekränkt, auch dass die Mutter sie in solchen Momenten nicht in Schutz nimmt. Sie fühlt sich oft alleine. Ihr Zimmer ist viel grösser als der enge Raum, den die drei Buben teilen, weil er auch noch als Gästezimmer dient. Die Brüder beneiden sie um das grosse Einzelzimmer. Sie wiederum wäre nur zu gern Teil der Zimmergemeinschaft nebenan. Wegen einer fehlenden Heizungsröhre klafft ein Loch in der Wand zwischen den Räumen. Gardi beobachtet wehmütig, wie die Jungs miteinander toben. Sie gehört dazu und gehört doch nicht dazu; ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter.
Hängt die Fremdheit auch damit zusammen, dass der Geschlechterunterschied von den Eltern so stark betont wird? Gardi möchte sein wie die Brüder, muss aber anders sein, weil sie ein Mädchen ist. Mädchen sind brav, tragen Röckchen, weisse Kniesocken, klettern nicht auf Bäume, pfeifen nicht und sind nicht laut. Mädchen nehmen sich zurück, passen sich an, sind lieb.
Es sind nicht nur die Eltern, die so denken – die gesellschaftlichen Strukturen sind darauf ausgelegt, den Geschlechterunterschied zu betonen. Vom getrennten Schulunterricht über die Trennung in den Kirchenbänken bis zu den zwei unterschiedlichen Kinder- und Jugendverbänden: Pfadfinder für die Buben und Blauring für die Mädchen. Während die Brüder mit der Pfadi durch den Wald pirschen und im Pfingstlager zelten dürfen, sitzt Gardi im Blauring, wo gehäkelt und gebastelt wird. «Mit 13 konnte ich dann endlich auch in die Pfadi, als Leiterin für die Jüngsten, die Wölfli. Kaum war das möglich, wechselte ich sofort. Aber natürlich konnte ich da nicht rumtoben. Ich war ja verantwortlich für die Kleinen – war quasi die vorbildliche Ferienmutter. Aber mit einem Pfadiführer scheu geschmust habe ich dann trotzdem.»
Die Botschaft in ihrer Jugend ist immer dieselbe: Mädchen sind «das Andere». Gardi ist von ihrem Naturell her aber gar nicht so anders. Sie steckt voller Energie. Sie rennt gerne mit den Buben mit, eifert den zwei Grossen nach, hat ihren Spass an wilden Spielen und Mutproben. Erwünscht ist das nicht. Und so steht sie zwischen den Welten. Sie soll anders sein und anders werden. Sie hadert mit dem Mädchenbild, so wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ich denke, dass ich eine andere Person geworden wäre, vielleicht sogar einen anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, wenn wir zwei Mädchen und zwei Buben in der Familie gewesen wären», sagt sie im Rückblick, «es wäre mir einiges an Selbstzweifeln erspart geblieben.»
Der jüngste Bruder Gilbert habe es am einfachsten gehabt, sagt sie. Er ist Mutters Liebling, verhält sich umgänglich und brav, ist nicht so trotzig wie die ältere Schwester. Erwin, Fredi und Gilbert Hutter erleben ihre Kindheit weniger streng als die Schwester. Eine schöne Kindheit hätten sie gehabt, erzählen sie heute und bestätigen gleichzeitig, dass es für Gardi als einziges Mädchen schwieriger gewesen sei. Die Mutter erlaubt den Buben mehr und kontrolliert sie weniger. Aber auch für Gardi ist nicht alles geprägt von Zwang und negativen Erfahrungen.
WOCHENEND- UND FERIENFREUDEN
Die Tüchtigkeit von Vater und Mutter zahlt sich aus. Obwohl es am Rathausplatz einen alteingesessenen Konkurrenten gibt, der für alle im Ort hörbar den «Bauernsohn als Kaufmann» verspottet, beginnt das Modehaus Hutter schon bald zu florieren. Ende der 1950er-Jahre leisten sich die Eltern ein Feriendomizil: die Hälfte eines kleinen Bauernhauses auf dem Ruppen. Hutters gehören auch zu den wenigen, die schon ein Auto besitzen, einen Zweitakter DKW, der in Gardi Hutters Erinnerung furchtbar stinkt. Davor fahren die Eltern auf einer Lambretta, einem Roller, auf dem auch Erwin und Fredi als Kleinkinder auf Ausflüge mitgenommen werden.
Im DKW wird den Kindern immer schlecht, wenn sie zu viert in den Wagen gequetscht werden. Auf langen Fahrten bekommen alle eine leere Heliomalt-Büchse auf den Schoss, für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, und dann wird gesungen, und zwar so lautstark und viel, dass die Kinder die Übelkeit vergessen.
Am Samstag ist um 16 Uhr Ladenschluss, keine Viertelstunde später sitzt Familie Hutter im Auto und fährt die gut zehn Minuten hoch auf den Berg zum Ferienhaus. Alle haben noch schnell die Kleider gewechselt. Vom ordentlichen Gewand in ausgebeulte Lumpen. Der Ruppenpass führt hinter Altstätten in Richtung Appenzellerland. Die Aussicht vom Haus aus ist fantastisch und geht weit über das Rheintal. Alle sechs Hutters fühlen sich hier wohl.
Das Gebäude ist sehr bescheiden, verfügt zunächst weder über fliessendes Wasser noch über Heizung oder Strom. Hier kann sich Bauernsohn Erwin Hutter verwirklichen. Er streicht, hämmert, zieht Leitungen ins Haus – alles wird selbst installiert und gebaut. «Meine Eltern mussten nie Hunger leiden, aber in ihrem Gedächtnis war sicher noch gespeichert, wie karg die Bauern ein, zwei Generationen vor ihnen gelebt hatten. Deshalb wurde alles aufgespart und wiederverwendet. Sie hatten es so gelernt und gaben es an die nächste Generation weiter. Sie waren nicht eigentlich geizig, aber sehr sparsam, wenn es um Kleinigkeiten im Alltag ging. Als dann später alle von Recycling redeten, mussten sie nichts dazulernen.»
Das Haus am Ruppen und seine Umgebung hat Gardi Hutter als ihr Kindheitsparadies in Erinnerung: «Dort gingen wir morgens zu viert in den Wald und kamen abends wieder zurück.» Die vierköpfige Rasselbande tobt ums Haus, spielt in den beiden Baumhäusern, die Erwin und Fredi gezimmert haben, Räuber und Poli (Gendarm), Cowboy und Indianer. Gardi immer mittendrin. Solange die vier Kinder klein sind, stört es die Buben nicht, dass sie ein Mädchen ist, sie muss nicht die Squaw spielen. Doch als die älteren Brüder zu pubertieren beginnen, wollen sie irgendwann nicht mehr mit der kleinen Schwester spielen. Sie wird abgewiesen. «Wir spielen nicht mit Weibern», heisst es, was sie sehr kränkt.
Im Ferienhaus nimmt sich die Mutter Zeit für die Kinder. Bei schlechtem Wetter wird gemalt und gebastelt. Kasperlefiguren aus Pappmaché entstehen, mit denen anschliessend ausgiebig gespielt wird. Man ist unter sich, hier gibt es Momente familiärer Innigkeit, die im Alltag sonst so kaum möglich sind.
Im Sommer wird im kleinen Pool, den der Vater ausgehoben und eigenhändig ausgekleidet hat, gebadet und gespritzt. Ein grosser Magnet für die Bauernkinder aus der Umgebung.
Der Vater ist ein begeisterter Wanderer und Bergsteiger. Die Familie unternimmt kleinere und grössere Touren. Die Kleinen werden auf dem Rücken mitgetragen. Und später, als die Kinder heranwachsen, macht der Vater oft auch ausgedehntere Bergtouren mit den vier Kindern. Die Mutter bleibt im Tal. Sie geht spazieren und einkaufen, fern von den Altstätter Kleingeschäften sogar in die sonst verbotene Migros.
Erwin Hutter ist Mitglied im Schweizer Alpen-Club SAC, der Nachwuchs im Alpen-Jugendclub. Es wird nicht nur gewandert, sondern auch geklettert. Gardi Hutter ist bis in ihre Teenagerjahre mit dabei und liebt die Berge ebenso sehr wie ihr Vater und die Brüder. Erwin und Gilbert machen als Erwachsene beide die Ausbildung des SAC zum Bergführer, leiten immer wieder Touren und pflegen das vom Vater angestiftete «Familienhobby» ein Leben lang.
Und natürlich wird auch Ski gefahren. Der Vater lernt zwar erst spät Ski fahren, mit Ende dreissig, aber noch rechtzeitig, um es mit seinen Kindern zu geniessen. Von Altstätten aus führt eine Schmalspurbahn bergauf Richtung Gais. Sobald es genügend Schnee hat, nehmen die Schulkinder an schulfreien Nachmittagen oder am Samstag den kleinen Zug, fahren auf die Höhe, den Stoss, und sausen hinunter. Ein Heidenspass, den ganzen Winter lang.
Ein Auto, ein Ferienhaus, bald einmal auch einen Fernseher – in einem abschliessbaren Schrank – und erste Auslandsferien kann sich Familie Hutter dank des wachsenden Wohlstands Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre leisten. Das Modehaus Hutter ist eines der ersten Geschäfte im Ort, die im Sommer zwei Wochen schliessen und ein Schild an die Tür hängen: «Wegen Ferien geschlossen». Mit dem DKW geht es mal nach Ascona zum Camping und bald darauf bis nach Italien ans Meer, die Heliomalt-Büchsen immer mit dabei. Zeltferien an der Adria in Cattolica und Jesolo, am breiten Strand mit endlos vielen Schirmen und Liegen. Auslandsferien – ein Abenteuer mit Meer und Sand, Gelati und Pizza und einer ungewohnten Sprache. Ein Foto von einem Ausflug nach Venedig zeigt die Kinder zu Füssen einer Löwenstatue. Die kleine Gardi schaut skeptisch hoch. Ist der Löwe wirklich aus Stein, wird er nicht vielleicht doch noch lebendig? Sie kann sich noch heute an die Furcht erinnern –