Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
sie in sich zu ruhen und strahlte eine Heiterkeit aus. Mit 96 Jahren sagte sie eines Nachmittags, sie fühle sich müde. Dann legte sie sich hin und starb.»
Die Hutters sind generell stille Leute, selbst beim Jassen wird kaum gesprochen. Nur Fritz, einer der drei Brüder des Grossvaters Gottlieb – der in die USA ausgewandert war und zurückkehrte –, schlägt aus der Familie und unterhält in der Dorfwirtschaft jeweils den ganzen Saal. Prompt wird später behauptet, Gardi habe ihr Talent vom Grossonkel geerbt.
Die zwei jüngsten Schwestern von Erwin Hutter werden Klosterfrauen in Baldegg und gehen in die Mission – damals eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen aus einfachen Verhältnissen, in die Welt hinaus zu kommen. Verona Hutter schafft es in den 1970er-Jahren bis nach Papua-Neuguinea und Tansania.
Gardi hilft wie alle Kinder auf beiden Höfen mit, hütet Kühe und Schafe und liebt das Landleben. Die Bauern im Rheintal betreiben Milchwirtschaft, und viele bauen neben Kartoffeln auch Erbsen für die Konservenfabrik Hero an; so auch Gardis Grosseltern.
Seit 1886 stellt Hero Büchsenerbsen her. In den 1900er- Jahren steht die Fabrik noch in Frauenfeld, wo die umliegenden Erbsenfelder liegen, und auch im Rheintal stellen die Bauern auf das Gemüse um. Gardi Hutter lacht, als sie erzählt, dass sie in ihrer ganzen Kindheit immer nur «Puverli und Rüebli» – Schweizerdeutsch für «pois vert», grüne Erbsen, und Karotten – aus der Dose zu essen bekam und nie frische Erbsen, obwohl sie sogar beim «Puverle» mithalf, dem Pulen der Erbsen aus den Schoten. Aber das Gemüse ging in die Fabrik und landete erst aus der Büchse wieder auf dem Teller. «Aus heutiger Sicht war es ziemlich absurd. Man befand sich in einer Gegend voller frischer Erbsen und ass sie bei den Grosseltern und bei uns zu Hause aus der Büchse, aber wir Kinder liebten die Puverli und Rüebli. Und es gab sie nur am Sonntag.» Erst im Alter von etwa dreissig Jahren kommt sie nach einem Auftritt bei einem Abendessen in einem Kloster im Walsertal das erste Mal in Berührung mit frischen Erbsen – eine Offenbarung: «Ich fiel fast vom Stuhl, dass Erbsen einen solch intensiven Geschmack haben konnten, unglaublich. Aber Konserven galten in meiner Kindheit als modern – und meine Mutter hatte wenig Zeit zum Kochen.»
Die Grosseltern Dietsche mit ihren Kindern; Gardis Mutter vorne links.
Die Familie um die Grosseltern Hutter; Gardis Vater oben links.
Gardis Eltern, Irma und Erwin Dietsche, heiraten am 7. Oktober 1946 in Altstätten. Beide haben Schneider gelernt; sie bauen erfolgreich ein Modehaus auf.
1948 erwerben Hutters ein Haus an der Trogenerstrasse 24 in Altstätten. Im Erdgeschoss führen sie das Geschäft, darüber wohnt die Familie.
Ein Schaufenster Anfang der 1950er-Jahre. Das Modehaus E. Hutter führt Herren-, Damen- und Kinderkleider.
Ende der 1950er-Jahre können sich Hutters ein kleines Ferienhaus auf dem Ruppen und einen Zweitakter DKW leisten.
Sommerferien in Italien. Skeptisch betrachtet die kleine Gardi einen steinernen Löwen in Venedig – ob er nicht doch lebendig wird?
Gardi Hutter 1958 als Fünfjährige im Kindergarten; stolz bewältigt sie den Weg dorthin alleine.
Weihnachten bei Familie Hutter, es wird musiziert und viel gesungen. Auch sonst ist das Singen wichtig im Familienleben.
KATHOLISCH, ZÜCHTIG, STRENG
Gardi Hutters Kindheit kennt viele Widersprüche, Widerstände, Unterschiede, aber vielleicht ist ihr Blick auch besonders geschärft für diese Aspekte. Der Kanton St. Gallen ist konfessionell gemischt, im Rheintal leben zwar mehrheitlich Katholiken, aber in Altstätten gibt es auch eine protestantische Kirche, und die beiden konfessionellen Lager stehen sich misstrauisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Man grenzt sich strikt voneinander ab. Der tiefe Graben zwischen Protestanten und Katholiken ist auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich spürbar. Er geht zurück auf den sogenannten Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Liberale, aufklärerische Ideen setzen sich damals weitherum gegen den als rückständig geltenden Katholizismus durch. In der Folge grenzen sich die Katholiken immer mehr ab und igeln sich in ihrem katholischen Milieu ein. Gardi Hutter wächst in diesem nach innen zwar intakten, nach aussen aber isolierten Umfeld auf.
Man bleibt unter sich, besucht mehrmals pro Woche den Gottesdienst, schickt die Kinder auf katholische Schulen, liest katholische Zeitschriften und Bücher, wählt die Kandidaten der katholischen Partei, geht in den katholischen Turnverein, singt im katholischen Kirchenchor und bleibt in den zahlreichen katholischen Vereinen unter sich. Es wird untereinander geheiratet, und nur katholisch geschlossene Ehen werden als gültig anerkannt. Homosexualität, Scheidungen, Abtreibungen, Sexualität vor der Ehe und ausserhalb der Fortpflanzung, uneheliche Kinder – alles Verstösse gegen die göttliche Ordnung und unaussprechliche Tabus.
In diesem Klima wächst Gardi Hutter heran. Früh wird ihr eingebläut, was der Unterschied zwischen Katholiken und Reformierten sei. Letztere kommen nicht in den Himmel, und sie besuchen in Altstätten eine separate Schule. An katholischen und protestantischen Feiertagen ignorieren sich die beiden religiösen Gemeinschaften gegenseitig oder stören einander sogar. Das lässt sich einfach bewerkstelligen, indem man beispielsweise während reformierter Festtage die Wäsche raushängt oder während katholischer Prozessionen draussen auf den Feldern Mist ausfährt.
Früh lernt Gardi auch, dass es einen grossen Unterschied zwischen Buben und Mädchen gibt. Er zeigt sich darin, was die einen dürfen und die anderen nicht. Gardi Hutters Kinderwelt ist wohlsortiert in Katholiken und Protestanten, in Mädchen und Buben, in Gut und Böse. Sie besucht die katholische Primarschule für Mädchen. Wenn sie ihre Cousinen besuchen will, führt der Weg über den protestantischen Schulhof. «Da bin ich immer schnell wie der Blitz durchgerannt, aus Angst vor den Reformierten.» Sie hat nur katholische Spielgefährten; mit den anderen kommt sie kaum in Kontakt. Als Teenager werden ihr die zwei schlimmsten Vergehen für ein katholisches Mädchen eingeschärft: «Das Schlimmste war, unverheiratet schwanger zu werden, und das Zweitschlimmste, einen Reformierten heimzubringen. Meine drei Brüder haben dann zwar alle Protestantinnen geheiratet, aber da waren die Sitten schon etwas gelockert.»
Die Sache mit den Konfessionen ist für Hutters ein Balanceakt. Wann immer möglich kaufen sie in den Geschäften anderer Katholiken ein; sie wollen aber natürlich auch protestantische Kunden. Wenn die Kinder etwas für die Familie besorgen, müssen sie immer laut und deutlich sagen, wer sie sind. «Wir mussten sagen: ‹Ein Kilo Brot für Hutter.› Das war meinen Eltern sehr wichtig.» So weiss der katholische Bäcker, dass Hutters ihm treu sind – und der protestantische Ladenbesitzer schätzt es, dass Hutters auch bei ihm kaufen. Neutralität, zumindest nach aussen, ist für die Kaufleute wichtig. Aber familienintern werden Gardi und ihre Brüder streng katholisch erzogen.
Drei Kirchgänge pro Woche sind die Regel: Dienstag und Freitag müssen die Kinder vor der Schule die Frühmesse besuchen und dazu noch den Sonntagsgottesdienst: «Wir waren im Hochamt, die ganze Gemeinde zusammen. Ich sass bei den Mädchen links, meine Brüder bei den Buben rechts,