Heute, nur heute. Helmut Schlegel

Heute, nur heute - Helmut Schlegel


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wieder einmal kurz anzuhalten,

      um zu sehen, wo ich bin,

      und zu unterscheiden,

      was ich zu tun habe und was nicht.

      Heute leben bedeutet, diesen Tag

      mit anderen zu leben.

      Das entlastet mich, weil ich nicht allein

      an meinem Leben tragen muss.

      Ich darf mich tragen lassen,

      wo ich nicht mehr weiterkann.

      Heute leben bedeutet auch,

      am Leben anderer mitzutragen.

      Ich stelle mir im Gebet das Netz vor,

      in das ich eingebettet bin.

      Ich werde mir dankbar bewusst,

      dass ich mich in dieses Netz fallen lassen darf.

      Ich spüre auch die Verantwortung, selbst am

      Netzwerk des gemeinsamen Lebens zu knüpfen.

      Ich nehme Maß an der Person und am Leben Jesu.

      Er lebte ganz im Jetzt,

      seine Lebensaufgabe verstand er als Hingabe

      an Gott und die Menschen.

      Das Heute in Hingabe zu leben –

      das motiviert mich, über mich hinauszuwachsen,

      das fordert aber auch meine ganze Konzentration

      und Kraft.

      In der Meditation lasse ich mich auf Jesus ein

      und bitte ihn im Gebet, mir den Geist der Hingabe

      zu schenken.

Zweites Gebot der Gelassenheit

       Heute, nur heute werde ich auf ein zurückhaltendes Auftreten achten: Ich werde niemanden kritisieren, ich werde nicht danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern – nur mich selbst.

      SPURENSUCHE

      Zurückhaltung ist keine der modernen Tugenden. Wer bescheiden ist, anderen den Vortritt lässt und schweigt, gilt sogar als unterwürfig, ängstlich, feige. Und das aus gutem Grund. Unsere Geschichte lehrt uns, dass Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit allzu oft von staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten missbraucht worden sind. Und damit machen sich jene, die zurückhaltend auftreten oder zur Zurückhaltung mahnen, unter Umständen mitschuldig an Gewalt und Unterdrückung.

      Eine moderne Ethik zielt eher in die Gegenrichtung: Gelobt wird der mündige Bürger und Christ, der sicher auftritt, seine Rechte einfordert, Andersdenkende konfrontiert und zielorientiert handelt.

      Auf den ersten Blick klingt dieses Gebot der Gelassenheit, das Angelo Roncalli vor mehr als einem halben Jahrhundert aufgestellt hat, für uns Heutige veraltet und verstaubt. – Ob es nicht gerade deswegen wieder in Erinnerung gerufen werden muss? Braucht unser Streben nach einem selbstbestimmten Leben eine Korrektur? Gerät es zu sehr auf die Spur des Individualismus und der privaten Beliebigkeit?

      Was versteht Johannes XXIII. unter Zurückhaltung? Musste er selbst um die richtige Balance ringen? War der bodenständige Bauernsohn von Natur aus ein Mensch der allzu schnellen Urteile und der allzu festen Grundsätze? Einige Seiten seiner Persönlichkeit und einige Kapitel seiner Biographie sprechen für diese Annahme. Dann hätte er mit seinem Gebot eine Warntafel aufgestellt, damit sein und unser Denken nicht auf die Holzwege der Selbstgerechtigkeit und Arroganz gerät und unser Reden nicht auf der breiten Straße populistischer Parolen landet.

      Vielleicht können wir in diesem Sinn das Wort „Zurückhaltung“ ins Heute übertragen: Es ist unsere Aufgabe, eine kritische Distanz zu allen Mainstream-Philosophien zu wahren. Es ist unsere Aufgabe, uns selbst genauso in Frage zu stellen wie andere. Es ist unsere Aufgabe, wahrzunehmen, dass die Fehler, die wir bei anderen sehen, ein Spiegelbild unserer eigenen Schwächen sind. Es ist unsere Aufgabe, uns selbstkritisch der Warnung zu erinnern, die Jesus ausgesprochen hat: „Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?“ (Mt 7, 4)

      WEGZEICHEN

      Jesus, Gott der Menschlichkeit

      Lass mich

      – nur heute –

      im Splitter in den Augen der anderen

      den Balken in meinen erkennen

      Ihre Splitter und mein Balken –

      beide

      aus DEMSELBEN Holz –

      fein gemasert

      jedes anders

      und fehlerhaft –

      aus DEMSELBEN Holz

      das allein uns erst menschlich macht

      Lass mich

      – nur heute –

      meinen Balken liebevoll

      berühren

      mit Humor und Dankbarkeit

      tragen

      genau so

      wie Du

      unsere Fehler liebevoll berührst

      und trägst

      wie Du das Kreuz

      – aus DEMSELBEN Holz –

      getragen hast.

       Ricarda Moufang

      SCHRIFTWORT

      Mose

      Er schaute hin: Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht. Mose sagte: Ich will dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht? Als der Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden (Ex 3, 2b–5).

      Der Dornbusch steht in dieser Geschichte für alles Starre und Verdorrte, für alles Zerstörerische und Verletzende im Menschen und in der Welt. Wenn Mose sich dem Dornbusch nähert, dann nähert er sich seinem inneren Bild. Der Dornbusch ist Spiegel seines Lebensgefühls, ausgetrocknet und unbrauchbar und von Gott verlassen zu sein.

      Tief in unserem Inneren lebt die Sehnsucht nach gelungenen Beziehungen, nach Freundschaft und Liebe. Aber diese Sehnsucht ist oft verletzt und enttäuscht. Wir haben den Eindruck, vieles im Leben ist unerfüllt, wenn nicht gar unerfüllbar. Und doch lässt uns die Frage nicht los: Warum brennt dieses Feuer in meinem Herzen?

      Was Mose in besonderer Weise erstaunt, ist die Tatsache, dass der Dornbusch brennt, aber doch nicht verbrennt. Die stacheligen, leblosen Dornen der Enttäuschungen und der existentiellen Leere gehören ebenso zu uns wie das Feuer der Hoffnung und der Gottesgewissheit. Auch hier ist der Ort, wo wir Mensch werden und den Namen des Ewigen erfahren. Auch hier, wo wir elend und fremd sind, brennt das Leben.

       Gelassenheit

      

Meine ganze Realität Gott hinhalten

      

Meine verletzte Seele aushalten

      

Die Kraft erfahren, die in der Sehnsucht liegt

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