Benedikt von Nursia. Bernardin Schellenberger
zugleich die Zahl der Klöster und die Anzahl ihrer Insassen rapide abgenommen hat.
Damit einher geht, dass in viele der noch bestehenden Klöster die Elemente der Mediengesellschaft einziehen. Selbst wenn diese örtlich noch abgelegen liegen mögen, verwenden sie notwendigerweise die modernen Kommunikationsmittel: Heutige Einsiedler verfügen über Internetzugang und Email-Adressen; etliche Kartausen haben inzwischen ihre eigene Homepage und sind per Email erreichbar; ein bekannter Trappist und Autor plädiert dafür, den Novizen ihr Mobiltelefon, das sie ins Kloster mitbringen, zu lassen, weil es für sie heutzutage wie ein Körperteil sei. Wenn aber jetzt Novizen über Twitter täglich ihren Freunden „in der Welt“ ihre Befindlichkeit und ihre Erfahrungen mitteilen können und die großen spirituellen Meister auch zu Meistern im Sammeln von Flugmeilen, Fahrtkilometern und Bücher-Umsatzzahlen werden, wird sich das entsprechend auf die Tiefe und Qualität ihrer „Wüsten“-Erfahrung auswirken, nämlich nicht gerade intensivierend.
So scheint sich Evdokimovs Ahnung zu erfüllen: Die Werte und Weisheiten des Mönchtums ziehen in die Spiritualität von zunehmend mehr Menschen „in der Welt“ ein, wogegen das von der Welt getrennte Mönchtum als Lebensform im umgekehrt proportionalen Verhältnis dazu personell und der spirituellen Substanz nach schrumpft.
Evdokimov schrieb weiter: „Als ehedem die Eremiten in die Wüste gingen, waren sie darauf aus, dem Feind von Angesicht zu Angesicht die Stirn zu bieten. Heute verlagert sich die Wüste, ‚der Aufenthaltsort der Dämonen‘, direkt ins Herz der Menschen, die in der Welt ohne Hoffnung und ohne Gott leben. Deswegen brauchen keine Mönche mehr die Welt zu verlassen, denn die Frontlinie hat sich verlagert.“6 Sie verläuft jetzt mitten durch jeden einzelnen Menschen. Jeder spirituell wache Mensch wird den Anreiz spüren, auf kreative Weise mit seinen Wertvorstellungen und seiner Lebensart „die Welt zu verlassen“, ohne sie physisch und gesellschaftlich zu verlassen – eine große Herausforderung!
„Die Welt verlassen“
Mönch wird man mit dem einschneidenden Schritt, „die Welt zu verlassen“.
Spirituell muss das ebenfalls jeder Mensch tun, dem die gängigen Ziele des ihn umgebenden bürgerlichen und sozialen Lebens zu oberflächlich und folglich zu wenig sind, und vielleicht auch sozial zu ungerecht. Das kann ins praktische Leben eine ziemliche Spannung bringen, sofern die Maßstäbe des inneren Weges und des äußeren Lebensverlaufs womöglich immer weiter auseinanderzuklaffen beginnen.
Folglich beginnt Gregor seine spirituelle Anleitung7 mit der Erzählung von diesem Schritt des jungen Benedikt, der ihn allerdings plakativ und folglich auch äußerlich radikal tut, indem er sich völlig von der Gesellschaft absetzt.
Diesen Schritt soll er zu Anfang des 6. Jahrhunderts getan haben, und zwar als Student in Rom und schon in jungen Jahren – vermutlich war er noch keine zwanzig. Das könnte ungefähr im Jahr 505 gewesen sein. Im Jahr 476 war der letzte römische Kaiser von einem ostgotischen Heerführer gestürzt worden. Rom war daraufhin auf den Rang einer Provinzhauptstadt herabgesunken und wurde von Korruption und Dekadenz zerfressen. Entwurzelte aus aller Herren Länder sammelten sich dort. Schon seit Jahrhunderten hatte es ein buntes Gemisch aller nur erdenklichen Kulte und Philosophien angezogen. Den jungen Mann aus soliden Verhältnissen in der Provinz stieß das alles ab. So schreibt sein Biograf: Er hatte von Kindheit an das Herz eines weisen Alten. Mit seinem Verhalten war er seinem Alter weit voraus. Er gönnte seinem Geist kein Vergnügen, denn solange er noch auf dieser Erde weilte, die er eine Zeitlang ungehindert hätte genießen können, verachtete er die Welt mit ihrer Blüte, die ihm dürr erschien.
Er entstammte einem freien Geschlecht in der Provinz Nursia und man hatte ihn zum Studium der Freien Künste nach Rom gegeben.
Dabei sah er viele in die Abgründe von Lastern stürzen und zog deshalb seinen Fuß, den er sozusagen gerade erst in die Welt gesetzt hatte, wieder zurück. Er wollte sich nicht von der weltlichen Wissenschaft anstecken lassen und dann womöglich am Ende in eine bodenlose Tiefe stürzen.
So verschmähte er das wissenschaftliche Studium. Er verließ das Haus und die Güter seines Vaters und suchte in seiner Sehnsucht, Gott zu gefallen, einen dementsprechenden Lebensstil.
Er zog sich also wissentlich ins Nichtwissen und mit Weisheit in die Ungelehrtheit zurück.
In diesem Text ist recht pauschal von der Welt- und Wissenschaftsverachtung des Helden die Rede: Benedikt verachtete die Welt mit ihrer Blüte, die ihm dürr erschien. Der lateinische Begriff dafür, mundum despicere, „die Welt verachten“, wurde zum Standardbegriff für die Grundhaltung des Mönchs. Wörtlich heißt er: „auf die Welt herabschauen“. Wenn man von der arroganten Konnotation dieses Ausdrucks absieht, kann man darin den guten und auch heute brauchbaren Sinn erkennen: „sich die Welt aus einigem Abstand ansehen“. Das brauchen wir heute sogar unbedingt, um nicht jeder Ideologie, jeder Mode, jedem Geschmack und jeder Spinnerei des Zeitgeists, also jeder dürren Blüte, auf den Leim zu gehen.
In der Aufzählung Gregors lassen sich durchaus Impressionen und Verhältnisse spiegeln, die man auch als Mensch von heute kennt, selbst wenn man die Welt nicht derart radikal verachten will: die Hohlheit eines Großteils unseres Vergnügungsbetriebs mit seiner „Blüte, die einem dürr erscheint“; die „Abgründe der Laster“, von denen in den Medien zuhauf die Rede ist, weil sie das interessierte Publikum offensichtlich zu einer Mischung aus ständiger Faszination und Empörung anstacheln; die Eitelkeit in manchen Bereichen des Wissenschaftsbetriebs oder jedenfalls die Sucht nach Titeln, Diplomen und Zertifikaten, infolge derer sogar bekannte Persönlichkeiten „in eine bodenlose Tiefe stürzen“.
Es tut gut, manches „wissentlich nicht wissen“ zu wollen und aus Weisheit über manches unbelehrt zu bleiben.
Dieser einleitende Abschnitt der Lebensbeschreibung Benedikts spricht ganz kurz etliche weitere interessante Themen an. Betrachten wir sie der Reihe nach etwas gründlicher.
Frühe Altersweisheit
Da heißt es gleich am Anfang, unser Held habe von Kindheit an das Herz eines weisen Alten gehabt (ab ipso pueritiae suae tempore cor gerens senile). Gemeint ist mit dem „Herz eines weisen Alten“die frühe Weisheit dieses Kindes. Einer solchen kann man ja bei kleinen Kindern tatsächlich immer wieder verblüfft begegnen, jedenfalls in Form des kurzen Aufblitzens von Fragen oder Aussagen über Gott und die Welt, über die man sich nur wundern kann; zuweilen nennt man solche Kinder ja dann auch „altklug“.
Gregor war geprägt vom antiken Ideal des weisen alten Mannes, des „Greises“ (senex), und schrieb Benedikt die frühreife Weisheit einer solchen Persönlichkeit zu.
Mit diesem Paradox, in der Jugend bereits über Züge einer Altersweisheit zu verfügen oder fähig sein zu müssen, solche anzunehmen, bekommt jeder zu tun, der jung in den Mönchsstand eintritt. Denn die Wertvorstellungen und Lebensrhythmen im Kloster sind im Wesentlichen diejenigen älterer, abgeklärter Menschen; für junge Menschen sind sie nicht unbedingt sofort sinnvoll und fruchtbar. Eine heutige Psychologie der Lebensalter und deren stufenweise Entwicklung führt das deutlich vor Augen. Sie zeigt, wie sich im Lauf eines Menschenlebens die Sensibilitäten, Wertvorstellungen und Interessenschwerpunkte immer wieder deutlich verlagern.
In manchen spirituellen Traditionen wusste man schon lange ziemlich deutlich darum. So gibt es zum Beispiel im Hinduismus eine alte Lehre von vier Lebensphasen des Menschen: Er durchlaufe nacheinander die Stadien des Schülers, des Haushalters, des Waldeinsiedlers und des Bettelmönchs: Der Jugendliche ist zunächst ein Lernender und wird als junger Erwachsener immer mehr zum aktiven Gestalter seiner Welt; ab der Lebensmitte setzt ein besinnlicher, kontemplativer Zug ein, wofür der „Waldeinsiedler“ steht, und am Ende darf er sich als „Bettelmönch“ verstehen, der alles loslassen kann und mit Recht erwarten darf, von seinen Mitmenschen das Notwendige zu erhalten.
Wo eine Gesellschaft sich auf diese vier Rollen der einzelnen Lebensstadien einigen könnte, hätten die Menschen auf allen Altersstufen