Benedikt von Nursia. Bernardin Schellenberger
Mönche historisch „rein zufällig“ so heißen?) sozusagen den archetypischen Verlauf der Berufung des Menschen durch Gott aufzuzeigen.
An Abraham ergeht unvermittelt der Ruf: „Geh fort von deinem Land, deiner Verwandtschaft und vom Haus deines Vaters und geh in ein Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen“ (Gen 12,1). Das ist der entscheidende Schritt, von dem oben bereits die Rede war.
Wie beschrieben, schildert Gregor in seinem Text, dass Benedikt genau das Gleiche tut und infolge seines Auszugs aus der Welt „ein großes Volk“ von Mönchen entsteht. Analog gilt das Entsprechende – wenn auch selten derart folgenreich und messbar – für den Christen „in der Welt“: Wenn er den Mut zu Ab- und Aufbrüchen hat und sich dabei konsequent von Gott führen lässt, kann sein Leben auf ungeahnte und vielfache Weisen fruchtbar werden, nicht nur für ihn allein, sondern auch für die Gemeinschaft der Menschen.
Der Aufbruch in die „Wüste“
Benedikt soll, wie bereits gesagt, um die Jahre 480/490 in der antiken Stadt Nursia zur Welt gekommen sein, dem heutigen Norcia in der umbrischen Provinz Perugia (154 km nordöstlich von Rom, 95 km südöstlich von Perugia sowie 83 km westlich der adriatischen Küste bei Porto d’Ascoli). Seine Eltern sollen einem angesehenen Geschlecht der Oberschicht angehört haben. Sie hatten ihrem Sohn also ein Studium der Freien Künste in Rom ermöglichen können. Außerdem hatten sie ihm dorthin als Haushälterin eine „Amme“ mitgegeben – recht bequeme Umstände, ein Studentenleben führen zu können.
Aber Benedikt fand das auf andere Weise ungenügend. Deshalb machte er eines Tages – ungefähr im Jahr 505 – damit Schluss und verließ Rom, um „die Wüste aufzusuchen“, petere deserta: das ist in der gesamten frühen Mönchsliteratur der klassische Begriff zur Bezeichnung der für den Geist besonders fruchtbaren Umgebung, die der Mönch aufsucht. Benedikt kehrte gar nicht mehr heim, sondern ließ seine Eltern einfach auf Nimmerwiedersehen hinter sich. Solche herzlosen Abschiede waren im frühen Mönchtum Brauch.
Der sechzig oder siebzig Jahre vor Benedikts Geburt verstorbene rigorose Asket und später nicht unbedingt deswegen heiliggesprochene Hieronymus hatte in einem Brief an einen gewissen jungen Heliodor geschrieben: „Selbst wenn dein kleiner Neffe sich dir an den Hals klammern würde; selbst wenn deine Mutter mit aufgelösten Haaren und zerrissenem Kleid dir ihre Brüste vorweisen würde, mit denen sie dich gestillt hat, und dein Vater sich auf die Türschwelle legen wollte: Setz den Fuß über deinen Vater und schreite über ihn hinweg, wende dich von deiner Mutter ab, geh fort und flieh trockenen Auges! Hier grausam zu sein ist der einzig richtige Erweis der Elternliebe.“9
Heute würde man einem solchen Briefschreiber zu Recht einen Sektenbeauftragten auf den Hals schicken – es sei denn, die familiären Verhältnisse wären absolut desolat und destruktiv; aber das waren sie ja im Fall Benedikts offensichtlich nicht.
Das Körnchen Wahrheit bleibt für heutige „Weltmenschen“, dass man sich – nicht unbedingt familiär, aber vielleicht im eigenen Lebensstil, in der Firma, im Umfeld oder auf irgendeinem anderen Gebiet derart ver- oder festgefahren haben kann, dass man sich nur noch durch einen radikalen, gnadenlosen Bruch mit dem Bisherigen retten kann.
Es muss nicht immer gleich eine derart akute Notsituation sein, wenn heutige Menschen spüren, dass sie dringend eine andere Dimension als ihren ständigen Alltagsbetrieb brauchen, eine „Wüste“, in der einmal einfach „nichts“ ist, oder wenigstens einen „Wüstentag“.
Viele aber meiden solche Aufenthaltsorte wie der Teufel das Weihwasser, und zu Recht, denn wie bereits die „Wüstenväter“ erleben mussten, tummeln sich in der Wüste die „Dämonen“ und fallen über den Besucher her, der naiverweise gemeint hatte, dort absolute Ruhe zu finden. Das wird bei den heute modischen Versprechungen vom idyllischen Leben, das man in der Stille und Abgeschiedenheit unverzüglich finde, weithin unterschlagen; es würde die Kunden abschrecken.
Die Wüstenväter machten es sich regelrecht zum Programm, diese Dämonen aufzuspüren und zu besiegen. Damit wurden sie genau genommen zu den Urvätern der Psychologie, für die man sich im profanen Bereich erst ungefähr anderthalb tausend Jahre später systematisch interessierte. Allerdings waren sie nicht an Erkenntnissen über die Psyche interessiert, sondern an der „Kardiognosie“, der Herzenserkenntnis.
Wenn in der „Wüste“ absoluter Ruhe und Unabgelenktheit die Dämonen lauern, ist es natürlich kein Wunder, dass die meisten Menschen sich in der Unruhe und Ablenkung wohler fühlen.
Die Abnabelung
Benedikt wanderte zunächst einmal entlang des Flusses Anio (heute Aniene) rund achtzig Kilometer in Richtung Osten, aber nicht gleich ganz in die Wüste. Gregor erzählt nämlich, seine Amme sei ihm „als Einzige gefolgt“. Von ihr heißt es, dass sie ihn arctius liebte, was genau übersetzt bedeutet: „sehr eng, allzu eng“. Die beiden gelangten schließlich in den in einer bergigen Gegend liegenden Ort Effide (das heutige Affile) und ließen sich dort nieder.
Was da in diesem ersten Kapitel des „Lebens des heiligen Benedikt“ erzählt wird, ist von etwas rätselhafter Symbolik, die man anscheinend meistens nicht groß beachtet hat. Man hat sich vorwiegend auf das erste Wunder konzentriert, das Benedikt dort wirkte: Auf sein intensives, von Tränen begleitetes Gebet hin wurde ein tönernes Getreidesieb, das der Amme versehentlich entzweigebrochen war – und sie hatte es von einer Nachbarin geliehen! –, wieder heil.
Dass ein junger Mann, der Mönch werden wollte, sich mit seiner Amme in Richtung Wüste auf den Weg machte, wirkt recht merkwürdig. Die Wüstenväter in Palästina und Ägypten hätten über ein solches Paar nicht schlecht gestaunt. War da ein Abnabelungsprozess noch nicht gelungen?
Interessanterweise heißt es direkt nach dem Satz, in welchem von der Benedikt allzu eng liebenden, ihm einzig nachfolgenden Amme die Rede ist, dass in Effide „viele ehrenwerte Männer dort aus Liebe (caritate) in der Kirche des heiligen Petrus weilten“. Das ist wieder eine rätselhafte Formulierung. Warum muss die „Ehrenwertigkeit“ der Männer betont werden (und nicht etwa, wie üblich, die große Frömmigkeit)? Warum, dass sie aus caritas dort weilten?
Wird da diskret – oder doch eigentlich deutlich – der notwendige Übergang, ja Ernüchterungs- und Reifungsprozess von amor zu caritas angedeutet, also von der Mutter- oder latent erotischen Liebe zur nüchternen Nächsten- und Gemeinschaftsliebe?
Und was war das für eine eigenartige Männergruppe? Warum wird sie nicht mit den üblichen Ausdrücken für eine geistliche Gemeinschaft beschrieben?
Mehr als diese Fragen stellen kann man hier wohl nicht.
Und dann das capisterium, das Getreidesieb. Es ist kaum zu glauben, dass Gregor damit überhaupt nichts Symbolisches sagen wollte. Wieder kann man nur Vermutungen anstellen. Ein solches Sieb dient jedenfalls zur Scheidung von Spreu/Schmutz und Getreide, deutet also auf eine klare Unterscheidung hin: Das Unterscheidungsmedium zerbricht kurz; Benedikt stellt es auf wunderbare Weise wieder her und „tröstet seine Amme zärtlich“. Dieses Wunder, das er da gewirkt hat, verbreitet sich im Ort wie ein Lauffeuer und wird allgemein bestaunt. Alle wollen das heil gewordene Getreidesieb sehen.
Gregor kommentiert dies so: „Von daher sollten alle Gegenwärtigen und Künftigen erkennen, mit welcher Vollkommenheit der junge Benedikt seine gnadenreiche Lebensweise begann.“ Auch diese Aussage schillert wieder: Bezieht sich die „Vollkommenheit“ auf seine Fähigkeit, mit einem Wunder ein zerbrochenes Sieb wieder ganz zu machen oder auf seine Unterscheidungs- und Entscheidungsfähigkeit?
Was in der Erzählung folgt, deutet eher auf Letzteres: „Aber Benedikt wollte lieber die Übel der Welt aushalten als deren Lob, lieber von Mühsal ermüdet als von den Gunsterweisen dieses Lebens erhoben werden. So floh (fugiens) er heimlich von seiner Amme. (Das ist die erste Etappe seiner fuga, „Flucht“). Er suchte einen abgelegenen Wüstenort namens Subiaco auf, ungefähr vierzig