Benedikt von Nursia. Bernardin Schellenberger
galten als anerkannter Stand; wenn man ihnen ein Almosen gab, so glaubte man, verbessere man sein eigenes Karma.
Für unseren Zusammenhang hier ist interessant, dass die Geschichte Benedikts genau in der Gegenrichtung dieses Lebensentwurfs verläuft. Wie wir sehen werden, fängt er als „Bettelmönch“ und „Waldeinsiedler“ an, wird schließlich „Haushalter“ einer großen Mönchsfamilie und stirbt am Ende aufrecht stehend.
Es ist hier nicht der Raum und auch nicht notwendig, weiter auszuführen, wie kontraproduktiv und gefährlich es sein kann, wenn junge Menschen, die in ihrem Leben noch gar nichts angepackt und aufgebaut haben, „alles verlassen“, um „Bettelmönch“ zu werden und eine Spiritualität des abgeklärten Alters zu pflegen. Oft holen sie die übersprungene Lebensphase später nach und geraten aus der Bahn eines kontinuierlichen Reiferwerdens.
Andererseits weist die Lebensweise und Spiritualität im Kloster schon früh im Leben in die Kunst ein, mit den Bedingungen fruchtbar umzugehen, in die man im Alter unvermeidlich gerät: dass man einsamer und es stiller um einen wird; dass das aktive Element zunehmend dem kontemplativen Platz machen sollte; dass die „Abgeschiedenheit von der Welt“ zunimmt. Glücklich, wer früh die Strategien und Künste gelernt hat, damit umzugehen.
Aber bei den folgenden Überlegungen und Anregungen geht es ja nicht um den Eintritt ins Kloster, sondern um jenen Abschnitt im Leben, an dem man anfängt, zum üblichen Treiben in der Welt auf einigen kritischen Abstand zu gehen und sich für einen einfacheren Lebensstil und eine tiefgründigere Orientierung zu interessieren. Normalerweise wird man dafür eine gewisse Reife, Erfahrung und Bewährung im praktischen Leben brauchen. Man wird auch nicht unbedingt eine jähe „Bekehrung“ erfahren, sondern die innere Distanz zu vielen, allgemein üblichen Wertvorstellungen wird ganz allmählich größer werden.
Keine besondere Einstiegserfahrung
In der Gattung der Lebensbeschreibungen heiliger Mönche steht dagegen meistens am Anfang eine jähe, schlagartige Berufungserfahrung. So wurden die großen religiösen Berufungen, die in der Welt nachhaltige Bewegungen und Bewusstseinsverlagerungen auslösten, weithin in irgendeiner Form als eindrucksvolle „Gotteserfahrungen“ beschrieben. Antonius den Großen, den späteren Wüstenvater (251/252–356), und den Ordensgründer Franz von Assisi (1181/82–1226) zum Beispiel traf in der Kirche der Spruch Christi ins Herz: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir nach!“ (Mt 19,21), und sie taten das buchstäblich.
Es ist bemerkenswert, dass von Benedikt keine derartige Erfahrung berichtet wird. Die Überlegungen, die den jungen, gut situierten Studenten dazu bringen, sein Studium abzubrechen und Rom zu verlassen, sind zunächst einmal eher „profaner“ Natur. Es heißt, er hätte in Rom – als Sohn wohlhabender Eltern – durchaus vorübergehend die sinnlichen Genüsse genießen können, doch habe er in seiner Studienzeit viele in die Abgründe von Lastern stürzen sehen und deshalb seinen Fuß, den er sozusagen gerade erst in die Welt gesetzt hatte, wieder zurückgezogen. Er wollte sich nämlich nicht von deren Kenntnis anstecken lassen und dann schließlich ebenfalls ganz in den bodenlosen Abgrund stürzen.
Die Welt kam ihm blutlos, also wie eine „verdorrte Blume“ vor, der Wissenschaftsbetrieb hohl und verhängnisvoll. Aus diesem Grund ging er auf radikalen Abstand dazu (wofür noch einmal der Begriff despicere verwendet wird): Das sind zunächst seine grundlegenden Motive – also derart allgemeine Beweggründe, wie sie auch ein nicht besonders religiös veranlagter Mensch nachvollziehen kann. Es ist die Sehnsucht nach etwas, „das mehr als das alles“ ist. Dieses „mehr als das alles“ benennt Gregor schließlich religiös: Benedikt habe „begehrt, einzig Gott zu gefallen“ (soli Deo placere desiderans).
Wenn diese Sehnsucht vehement im Menschen aufbricht, ist er imstande, vieles Bisherige aufzugeben und auf die Suche zu gehen. Das war bei Benedikt der Fall, und so zog sich der junge Student eines Tages wissend ins Nichtwissen und weise ins Ungelehrtsein zurück (recessit igitur scienter nescius et sapienter indoctus).
Die lateinische Sprache der Bibel, die Meditation und der Name „Benedictus“
Als Helden seiner Erzählung stellt Gregor der Große einen jungen Mann vor, der Benedictus hieß, und zwar gleich im ersten Satz seiner Lebensbeschreibung. Das entspricht dem antiken Brauch (wie er heute noch in päpstlichen Enzykliken fortlebt), mit den Anfangsworten das Thema oder den Kern des gesamten folgenden Schreibens oder Buchs anzukündigen.
Dieser Name ist alles andere als zufällig.
Dazu muss hier kurz erläutert werden, dass die Bibel seit ungefähr dem 4. Jahrhundert im Abendland immer mehr auf Lateinisch verwendet wurde. Die Gesamtübersetzung von Hieronymus († 420), die als Vulgata („die allgemein übliche“) bekannt wurde, setzte sich durch und war bis zur Reformation im 16. Jahrhundert allgemein in Gebrauch. Die Leser, für die Gregor schrieb, nämlich die Mönche und des Lesens (natürlich auf Latein) kundigen Kleriker, waren mit dem Wortlaut der lateinischen Bibel auf eine uns heute unvorstellbare Weise vertraut. Schließlich war die Bibel der hauptsächlichste Text, mit dem sie sich ständig befassten. Sehr viel mehr andere Texte hatten sie gar nicht zur Verfügung; es war ein verschwindend kleiner Bruchteil dessen, womit wir heute tagtäglich „zugetextet“ werden.
Entsprechend besser und genauer blieb dieses Wenige im Gedächtnis haften. Die Mönche hatten in ihren langen täglichen Stundengebeten immer Bibelworte im Mund und hörten vorwiegend biblische Lesungen oder Auslegungen und Paraphrasen der Bibel; viele kannten lange Passagen daraus oder sogar ganze Bücher auswendig. Der ägyptische Mönchsvater Pachomius († 347) hatte in seiner Klosterordnung angeordnet: „Keiner sei im Kloster, der nicht das Lesen und Schreiben lernt. Jeder soll zudem einiges aus der Heiligen Schrift auswendig können: wenigstens (!) das Neue Testament und den Psalter.“8
Für diese Mönche bestand die vorwiegende „Methode“ der „Meditation“ darin, Bibeltexte zu murmeln (meditari), wie es schon im Judentum Tradition gewesen war und ist: os iusti meditabitur sapientiam („der Mund des Gerechten bewegt Worte der Weisheit“), heißt es in Psalm 37,30; und in Psalm 1,2 steht die Empfehlung: „Wohl dem, der Lust hat zum Gesetz des Herrn und seine Weisung murmelt bei Tag und bei Nacht“ (… et in lege eius meditabitur die ac nocte).
Gleiche Formulierungen weckten Assoziationen, luden zu Gedankenverbindungen ein, knüpften Zusammenhänge. Damit spielten die Autoren bis ins Mittelalter. Heutigen Lesern entgeht das so gut wie ganz. Deshalb wird im Folgenden immer wieder einmal ein lateinischer Wortlaut genauer erschlossen werden.
Was einem sonst entgehen kann, zeigen bereits die ersten Worte der Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt: Fuit vir vitae venerabilis, gratia Benedictus et nomine … (wörtlich übersetzt: „Es war ein Mann ehrwürdigen Lebens, seiner Begnadung und seinem Namen nach ein Gesegneter“).
Beim Lesen des gratia Benedictus et nomine kam dem Bibelkundigen im 6. Jahrhundert und noch bis ins Mittelalter unwillkürlich die Stelle Genesis 12,2–3 in den Sinn, ein kunstvolles Wortspiel mit dem Begriff benedictus: … magnificabo nomen tuum erisque benedictus. Benedicam benedicentibus tibi et maledicam maledicentibus tibi atque in te benedicentur universae cognationes terrae („… ich werde deinen Namen groß machen und du wirst ein Gesegneter sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen, und in dir werden gesegnet sein alle [deine] Verwandtschaften auf Erden.“
Als spontane Assoziation für „Benedikt“ stellte sich also unverzüglich die Gestalt Abrahams ein, des biblischen Stammvaters.
Manche kritische Autoren vermuten sogar, es handle sich bei der Namensgebung „Benedictus“ um eine literarische Erfindung. Abgesehen von Gregors Biografie sei nämlich der Mann, der als Stammvater aller Mönche des Abendlands gilt und nach dem man deren Regel benannt hat, völlig unbekannt und mit nichts historisch zu belegen.
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