Die inneren Fesseln sprengen. Phyllis Krystal
des Käfigs zur anderen – anmutig, aber frustriert, einige Tiere warfen sich gegen die Stangen des Käfigs in offensichtlicher Wut und Rebellion, frenetisch und ängstlich in dem verzweifelten Versuch auszubrechen. Andere Tiere verzogen sich in den hinteren Teil des Käfigs und rollten sich zusammen wie ein Embryo – zurückgezogen von jeglicher Teilnahme am Leben. Manche begannen einen Hungerstreik und verweigerten die Nahrung, während andere, z. B. die Bären, begannen, eine Vorführung zu geben, kleine Tricks präsentierten, eine kleine Show für die Besucher inszenierten, um deren Aufmerksamkeit zu gewinnen und sich so von ihrer Langeweile abzulenken. Andere machten sich beliebt, erbettelten mit Purzelbäumen Futter von den Wärtern. Bei der Betrachtung dieser unterschiedlichen Reaktionen fragte ich mich, warum ich diese Bilder bekommen hatte, und bemerkte sofort, dass die Menschen, ebenso wie die Tiere, die ich gerade sah, in Käfigen gefangen sind – allerdings in von ihnen selbst angefertigten. Mit der gleichen inneren Bestimmtheit wusste ich aber auch, dass sie sich aus diesen Käfigen befreien können, sofern sie dies wollen.
Würde tatsächlich irgendjemand nicht frei sein wollen?, fragte ich mich. Als Antwort erschienen mir in meiner Vorstellung mehrere Menschen, die ich kannte, die in diese Kategorie passten. Als ich weitersuchte, stellte ich fest, dass viele Menschen jede Art von Veränderung ablehnen. Sie ziehen die Sicherheit einer gewohnten Situation oder Bedingung vor, wie schwierig oder unglücklich diese auch sein mag, um Unsicherheit gegenüber Unbekanntem oder Anderem zu vermeiden.
Es gibt auch solche, die protestieren und frei sein wollen, aber, sobald sie die Gelegenheit erhalten, sich aus ihren Gefängnissen zu befreien, feststellen, dass ihr Drang nach Freiheit nicht groß genug ist, um ihr Festhalten an Menschen, Besitztümern, Wünschen, Sicherheiten oder anderen Dingen, ohne die sie nicht leben können, aufzugeben. Menschen können größte Anstrengungen unternehmen, um ihre gehegten Wünsche und Träume zu schützen und wehren jeden Versuch ab, ihnen aufzuzeigen, dass diese der Grund für ihr Unglücklich-Sein sind.
Als nächstes wurde mir bewusst, dass wir – ebenso wie der Faden der Ariadne – den Prozess bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen müssen, vorbei an dem Deckmantel aus Protest, die der Verstand aufgebaut hat, um den Schlüssel zu finden, der das Gefängnis jedes Einzelnen aufschließen kann; nur wenn die versteckten Gründe für die Symptome entdeckt werden, kann die Heilung nachhaltig sein. Das Ego mit seinem »ich will« und »ich will nicht« ist der tief sitzende Kern, der so heftig verteidigt wird wie eine Zitadelle – mit Wut, Angst und Verzweiflung, bevor die Kapitulation vor dem Höheren Selbst stattfindet.
Das Übergeben an die innere Weisheit ist der Schlüssel zu Gesundheit und Ganzheit und die wahre Bedeutung von »Dein Wille geschehe, nicht meiner«. »Dein Wille« bezieht sich auf den Willen unseres eigenen Höheren Selbst, das allein weiß, warum jeder Mensch in diesem Leben ist, während »mein Wille« der zwanghafte persönliche Wille des Egos ist, gebunden an eine Unzahl von Wünschen.
Ich realisierte, dass uns freier Wille gegeben wurde, aber es wurde sichtbar, wohin er uns für gewöhnlich bringt: in Käfige! Solange wir nicht lernen, dass wir nur frei sind, wenn wir dem Höheren Selbst vertrauen, können wir nicht wirklich ermessen, was Freiheit bedeutet. Das Prinzip »Lass das Vertrauen in diese Höhere Weisheit die umkämpfte Zitadelle des Kleinen Selbst erstürmen« kam mir plötzlich in den Sinn. Ich sah, dass alle psychologischen Probleme und das Unglücklich-Sein Zeichen auf dem Weg zu unseren inneren Konflikten sind, die uns, wenn sie richtig verstanden werden, zu den ursprünglichen Wurzeln führen können. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass alle Lebenden unter dem einen oder anderen Aspekt dieser »Krankheit der Trennung vom Höheren Selbst« leiden. Manche Menschen sind davon härter betroffen als andere, manche können es erfolgreicher tarnen oder verstecken, indem sie verschiedene Tricks anwenden, so wie beispielsweise ständige Beschäftigung, Drogen, Alkohol, Sex, Fernsehen, Bücher oder Essen. Wir sind alle wie die Tiere im Käfig! Dieses Bild machte mich ehrfürchtig.
Dann erinnerte ich mich an die östlichen Philosophien und deren Beharren auf Wunschlosigkeit und Loslassen und ich sah, dass uns in unserer Arbeit gezeigt wurde, wie wir die Bindungen zu Dingen, Menschen, Orten, Lebensarten, allem, was uns daran hindert, frei zu sein, lösen können. Darüber hinaus bemerkte ich, dass die Techniken, die uns im Laufe der jahrelangen Arbeit offenbart wurden, dazu dienen, uns aus den Käfigen zu befreien und auch anderen dazu zu verhelfen.
Ich durfte dann kurz erleben, wie sich diese Freiheit anfühlt, und erkannte, dass es sich um genau den Bewusstseinszustand handelte, den ich ab und zu während unserer Sitzungen erreichte und den ich den »Bildteppich-Zustand« nannte.
Bisweilen, wenn ich mich auf Bilder oder Gedanken, die mir kamen, fokussierte, wurde ich mir plötzlich einer gewaltigen Veränderung meiner Haltung bewusst. Ich fühlte mich, als würde ich frei im Raum in einem rosa Licht schweben, wie ein Vogel im Wind, während ich auf einen wunderschönen Bildteppich unter mir blickte. Ich genoss diese kurzen Zeiten in diesem Bewusstseinszustand sehr und fühlte mich, als würde mir eine Sichtweise über die Welt wie durch Gottes Auge gegeben, die nie aufhörte, mich zu erstaunen. Manchmal versuchte ich, diesen Zustand willentlich zu erreichen, schaffte es aber nie, denn das Erreichen dieses Zustandes scheint jenseits unserer bewussten Kontrollmöglichkeiten zu liegen. Zunächst war ich auch etwas erschrocken über meine Haltungsveränderung. Wenn ich sah, wie unmenschlich manche Menschen mit anderen umgingen, die Kriege, Morde, Vergewaltigungen und Sorgen, fühlte ich trotz des Grauens – wie Browning sagte: »Gott ist in Seinem Himmel, alles ist in Ordnung mit der Welt!« Einige Minuten vorher wäre ich beim Anblick dieser Weltszenen vor Depression zusammengesunken. In diesem anderen Zustand war ich jedoch für einen Moment befreit von der Welt und konnte alles aus anderer Perspektive beobachten, wissend, dass all das unvermeidlich ist für den so notwendigen Lernprozess, der nur dadurch möglich wird.
Von oben gesehen war der Bildteppich immer wunderschön mit brillierenden Farben, hell und dunkel, alle kunstvoll harmonisch verwoben, ein komplexes Muster bildend; alles war an seinem richtigen Platz. Allerdings sah der gleiche Bildteppich von unten, von unserer begrenzten, bewussten Perspektive aus betrachtet, ganz anders aus: Das Muster war unscharf, undeutlich, denn viele Knoten und lose Fäden verdeckten das wunderschöne Design, das ich von oben gesehen hatte, und alle Farben schienen einfach zusammenzulaufen. Es wurde mir klar, dass das wahre Muster von der Perspektive des Höheren Selbst aus erkennbar ist.
Unsere Leben sind mit denen anderer verflochten, damit alle lernen können, und wir ziehen solche Menschen und Erfahrungen auf uns, die uns das lehren, was wir lernen müssen. Da wir nicht über unsere begrenzte Sichtweise hinaus sehen können, erscheint das Muster hässlich und unsauber und somit falsch. Aber von oben betrachtet, wo das Design klar erkennbar ist, ist alles, wie es ist, wie es sein muss – so, wie wir es gewoben haben. Sogar die negativen Anteile sind unverzichtbarer Teil des Ganzen.
Dann erkannte ich, dass sogar »die Knoten richtig sind«; diesen Ausdruck benutzten wir oft, um vermeintlich negative Erfahrungen zu beschreiben, die aber oft genau diejenigen sind, die uns dazu bewegen, unsere Spur zu verlassen, uns zwingen, zu wachsen. Die meisten Menschen haben eine starke Tendenz, ein entspanntes und leichtes Leben zu führen, wenn die Dinge zu gut laufen. Das führt zu einer Stagnation und verhindert Wachstum. Dies liegt nur daran, dass wir das wunderschöne Muster, das wir alle zu weben wünschen, nicht erkennen können und lediglich die schlecht aussehende Unterseite sehen, die wir fälschlicherweise beurteilen.
Als ich dieses Bild einer jungen Frau mitteilte, die zu mir kam, während sie noch um den Tod einer geliebten Person trauerte, fragte sie mich gequält: »Würden wir nicht alle indifferent und sorglos werden, wenn wir die Sichtweise hätten, die Du beschreibst?«
Ich verstand genau, was sie meinte, weil es zunächst auch meine Befürchtung gewesen war, aber die Erfahrung zeigt etwas anderes. Es bewirkt, ganz im Gegenteil, mehr Einfühlungsvermögen und größeres Verständnis und es vermindert die Kritik an anderen. Nur mit solchen inneren Haltungen kann Hilfe angeboten werden.
Ein junger Mann, mit dem ich arbeitete, hatte eine andere Reaktion, als er die Bildteppich-Perspektive erreichte. Er wollte diese nicht mehr verlassen, um nicht in das »gewöhnliche, düstere Bewusstsein des täglichen Lebens zurückzukehren«, wie er es ausdrückte. Ebenso wenig wollen diejenigen, die Drogen nehmen, um Langeweile und Stumpfheit, Angst und Hässlichkeit in ihren Leben zu