Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn. Raimund Allebrand

Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn - Raimund Allebrand


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      Ob und wie weit ein Burnout-Syndrom überhaupt existiert, hängt allerdings in erster Linie ab von Diagnosen und Konzepten, von Definitionen und Konstrukten der Fachleute verschiedener Disziplinen. Beileibe nicht jede Stressbelastung und daraus resultierende Krise führt automatisch in den persönlichen Kollaps. Eine Fixierung auf den beruflichen Aspekt, wie sie seit Beginn der Erforschung des Syndroms stets im Fokus steht, ist ohnehin irreführend. Hier liegt die eigentliche Lüge, wenn Burnout gleichsam als betriebsbedingter Ausfall des Individuums vorgeführt wird, ohne dem gesellschaftlichen Umfeld einer postmodernen Kultur Rechnung zu tragen.

      Denn letztlich geht es immer um das Scheitern eines Lebensplans, um die Enttäuschung eines Selbstkonzeptes der Betroffenen, ähnlich der so genannten Midlife-Crisis früherer Jahre. Ein existenzielles Burnout ist nahezu unvermeidlich, wenn man in einem begrenzten Lebensvollzug nicht findet, was man eigentlich sucht, und mit der Zeit neben Glauben, Hoffnung und Liebe auch den Sinn im Dasein verliert.

      Wer heute an Burnout erkrankt, hat deshalb mit Sicherheit vor langer Zeit auf ein falsches Pferd gesetzt, hat Grenzen und Begrenzungen seines Selbst nicht erkannt und die Verwirklichung seiner Existenz an irrtümliche Bedingungen geknüpft, die sich eines Tages gegen ihn wenden.

      Angesichts ihrer derzeitigen Verbreitung hat die Symptomatik des Burnouts alle Chancen, zum Schlüsselbegriff zu werden; allerdings weniger für das individuelle Scheitern im Beruf. Eher schon wird Burnout zu einer Metapher für den Zustand unserer Kultur im 3. Jahrtausend und zum Paradigma, das eine Grundbefindlichkeit des postmodernen Menschen charakterisieren kann.

      Wer aber ist der Mensch? Zugestanden, im 3. Jahrtausend kommt diese Frage reichlich spät. Und ist zudem nicht sonderlich originell. Denn sie begleitet uns seit geraumer Zeit, genauer gesagt seit Beginn des Denkens. Verschiedenste Antworten wurden im Lauf der Jahrhunderte akzeptiert und verworfen.

      Dennoch ist jeder von uns genötigt, diese Menschheitsfrage wohl oder übel an sich selbst zu richten und mehr noch, sie durch seine eigene Lebenspraxis zu klären, bewusst oder gedankenlos. Sein oder Nicht-Sein, Sinn und Unsinn beweisen wir ständig im täglichen Lebensvollzug. Unter diesem Aspekt bleibt sie sich immer gleich, die Frage nach dem Menschen, der ich selbst bin – und kommt bei aller Beantwortung an kein Ende.

      Was sich allerdings stetig wandelt, sind unsere Lebensbedingungen, die Umstände unserer Existenz. Ändert sich damit auch der Mensch, womöglich in seiner Substanz, vielleicht innerhalb kurzer Zeit? Dieses Thema soll mich auf den folgenden Seiten beschäftigen. Meine Leserinnen und Leser lade ich ein, mich auf diesem Weg einige Stunden zu begleiten.

      Welcher Menschentyp entfaltet sich im sozialen und kulturellen Biotop der Gegenwart? Was sind die Hoffnungen unserer späten Moderne, wo liegen unsere Leiden und Leidenschaften?

      Von drei Seiten her droht das Leiden: Vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen.

      Der Autor dieser Gedanken, Sigmund Freud, vergisst hier eine weitere Quelle des Unbehagens in der Kultur, zumindest ist sie ihm einer Erwähnung nicht wert. Jene Behandlung nämlich, die dem Individuum zuteil wird durch sich selbst. Was Leid und Missbehagen betrifft, muss das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und damit unsere Beziehung zur eigenen Emotion im Mittelpunkt der Erörterung stehen, heute vielleicht mehr als ehedem.

      In diesem Zusammenhang die schlechte Nachricht zuerst: Zehn Prozent aller deutschen Erwachsenen haben laut wissenschaftlichem Befund keinen Zugang zu Gefühlen. Jetzt die gute: Dies kann sich ändern, wenn man in den Inszenierungen, Produkten und Symbolen der Konsumlandschaft einen käuflichen Ersatz für die eigene Gefühlswelt erkennt und damit jene Coolness, die uns der eigenen Gefühlswelt entfremdet – und somit einem emotionalen Burnout Vorschub leistet.

      Erfahrungen mit Klienten im Coaching meiner Beratungspraxis sowie Gespräche mit Freunden und Kollegen brachten für mich die Frage: Gibt es ein Grundgefühl der Gegenwart, eine Mentalität des 3. Jahrtausends, einen Gesellschaftscharakter der Postmoderne? Anders gesagt: Wo liegt der emotionale Mainstream unseres heutigen Lebens?

      Suchen wir Vagabunden der späten Moderne einen Rückzug auf uns selbst aus Furcht vor sozialer Kälte – oder bringen wir diese als Coolness selbst hervor? Die folgenden Seiten suchen Antworten auf diese Fragen und wollen dabei nicht im Allgemeinen bleiben. Zudem soll die Erörterung lesbar sein, streckenweise unterhaltsam vielleicht. Konkrete Beobachtungen aus dem Panorama der Gegenwartskultur werden im Lauf der Diskussion herangezogen. Gewiss: Manches gleicht einer Karikatur, anderes erinnert an Satire, an absurdes Theater – das Drehbuch schreibt aber immer die Realität.

      Im Folgenden präsentiere ich Erfahrungen und Beobachtungen aus unserer täglichen Begegnung mit Massenmedien und Kulturbetrieb, mit Konsum- und Finanzwirtschaft. Bei manchen Aspekten werde ich länger verweilen, einige Beispiele sind zuweilen detailliert geschildert. Eine Plausibilität zahlreicher Beispiele, wenn sie auch meiner Leserschaft einleuchten, legitimiert hoffentlich den folgenden Versuch einer psychodynamischen Interpretation kultureller Kälte, die ich als ein Symptom des postmodernen Burnouts verstehe. Den Gedankengang des folgenden Essays kann ich in wenigen Worten oberflächlich skizzieren:

      Coolness wurde zu einer postmodernen Überlebensstrategie und begegnet uns allenthalben: in den Giganten des Kulturbetriebs ebenso wie in den Inszenierungen der Erlebniswirtschaft, vor dem Fernseher wie im Internet. Der Wahnsinn einer flächendeckenden Medien- und Eventkultur leistet dem postmodernen Burnout Vorschub und tarnt sich dabei mit scheinbarer Normalität (Kapitel Unsere tägliche Prominenz und Der Trend zum Event).

      Geborgte Leidenschaft ist ein Mainstream, der Leiden um jeden Preis vermeiden will, und deshalb Teile des eigenen Selbst ausgelagert hat. Ein erschöpftes Selbst ist zu eigener Betroffenheit immer seltener fähig und bedient sich stattdessen geborgter Leidenschaften, die außerhalb der eigenen Person stattfinden. Der Rückzug auf sich selbst führt dabei zu narzisstischer Kälte, die als Coolness in Erscheinung tritt und ein kulturelles Burnout vorbereitet.

      Ein Menschentyp, der eigene Emotionen ersetzen muss, macht allerdings beim gekauften Selbst nicht halt. Die Inszenierungen eines spekulativen Marketingcharakters bedrohen Wirtschaft und Gesellschaft – sie provozieren das Burnout einer sozialen Eiszeit.

      Wenn bisher und im Folgenden des Öfteren von Postmoderne die Rede ist, so wird dieser Begriff anfangs des 3. Kapitels näher erläutert. Nicht zufällig steht er in enger Beziehung zu anderen Schlüsselwörtern dieses Essays, wie etwa Coolness und Leidenschaft, Narzissmus und Burnout. Kurz gesagt: Nach meiner Einschätzung ist das gegenwärtige coole Zeitalter ein Burnout der Moderne. Eine narzisstische Dekompensierung führt dabei zahlreiche Menschen drastisch an ihre Grenzen. Dies zu verdeutlichen ist Anliegen der folgenden Seiten.

      Allerdings: Manche geben sich etwas zu leicht damit zufrieden, über den nur allzu bekannten Orientierungsverlust des modernen Menschen, die daraus folgende Schwächung der sozialen Bindungen, die Privatisierung der Existenz und den Niedergang des öffentlichen Lebens zu klagen (Ehrenberg 2008: 18).

      Diese Gefahr besteht, und ich will ihr so weit wie möglich nicht erliegen. Nostalgie einer besseren Zeit oder Sehnsucht nach klaren Verhältnissen sind nicht das Motiv meiner Darstellung. Nicht ein Blick zurück steht im Mittelpunkt der Diskussion. Meine Frage auf den folgenden Seiten gilt der künftigen Dimension unserer Gesellschaft zwischen sozialer Polarisierung und einem kulturellen Burnout, das immer deutlicher zutage tritt.

      Der Kerkeling-Effekt – Holzweg nach Santiago – Ich bin dann mal weg – Schein-Riesen der Medienlandschaft – Reality oder Illusion? – Deutschland sucht den Superstar – Unsere tägliche Prominenz

      Die Wanderimpressionen des deutschen Entertainers Hape Kerkeling auf dem spanischen Jakobsweg machen als Bestseller von


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