Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn. Raimund Allebrand

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weiß nicht wohin und landet entsprechend wieder bei sich selbst. Zudem: Wege zu sich kann man und muss man immer und überall suchen und findet sie womöglich im heimischen Stadtpark oder auf der Couch des Analytikers besser als im sommerlichen Geschiebe eines Wanderpfads, der inzwischen von Abertausenden belaufen wird. Nicht zu reden von der Weisheit des spanischen Dichters Antonio Machado: Wanderer, deine Spuren sind der Weg, sonst nichts. Es gibt keinen Weg. Weg entsteht im Gehen … und schaust du zurück, dann siehst du einen Pfad – den du nie mehr betreten kannst!

      Das postmoderne Konzept des Wanderns auf dem Jakobsweg ist somit das ziemliche Gegenteil seiner ursprünglichen Dimension. Weil er aber Jahrhunderte lang gründlich vergessen wurde, wird der Pilgerweg heute – ganz unbelastet von historischer Erinnerung – neu erfunden. Er führt dann nicht über Santiago in die Transzendenz oder, wie tausend Jahre zuvor, mit einem christlichen Apostel in den Kampf gegen muslimische Spanier, sondern endet in der horizontalen Dimension des eigenen Hörsturzes, den es auf einem Umweg über das Mittelalter zu kurieren gilt.

      Das Unverwechselbare des Jakobswegs, seine historische Szenerie und zeitliche Landschaft, die ihn von den Wegen nach Rom oder Altötting unterscheidet, kommt dabei zu kurz. Seine politische Dimension, die Gratwanderung christlicher und muslimischer Bevölkerung in Spanien und darüber hinaus, ist den allermeisten Besuchern heute kaum einen Gedanken wert. Zu Unrecht, denn die historische Wanderung der Iberischen Halbinsel – Terror und Toleranz in einer Jahrhunderte währenden Konfrontation mit dem Islam – wäre vielleicht hilfreich in Zeiten eines religiös bemäntelten Fundamentalismus auf muslimischer Seite. Nachdem die Christenheit zwischenzeitlich ihre totalitären Impulse, geläutert durch die Moderne, weitgehend unterdrücken musste.

      Andererseits ist der Patron des christlichen Spanien überall am Wege als Matamoros dargestellt, als Maurentöter, und schon deshalb kein guter Gesprächspartner für den Islam. Jakobus empfiehlt sich unter diesem Aspekt nicht unbedingt als Kandidat für den Friedensnobelpreis und präsentiert sich alles andere als politisch korrekt. Der Pilgerweg als Kriegspfad gegen Muslime! Da ist man schon froh, wenn postmoderne Pilger wie Hape Kerkeling diesen ideologischen Aspekt einfach ausblenden.

      Sonst wäre nämlich der Weg nach Santiago längst, seiner historischen Bedeutung entsprechend, zum heutigen Symbol eines Heiligen Krieges gegen den Islam avanciert; statt Hape Kerkeling wäre George W. Bush nach Santiago gepilgert; Attentate nicht der baskischen ETA, sondern der muslimischen Al Kaida wären dort an der Tagesordnung, der Fremdenverkehr am Jakobsweg bräche zusammen – und Kerkeling hätte den Weg zu sich selbst in der Eifel suchen müssen. Oder im Schwarzwald.

      Reichlich Polemik bei der Rezension eines harmlosen Reiseberichtes, möchte man sagen. Noch dazu aus der Feder eines Entertainers, dem auch der Autor dieser Zeilen durchaus einiges an Sympathie entgegenbringt. Das heißt, mit Kanonen schießen, und zwar auf Spatzen. Etwas Toleranz täte gut! Hat nicht jeder längst seinen eigenen Jakobsweg? Oder gibt womöglich ein millionenfach verkaufter Buchtitel Hinweise auf die Mentalität und das Grundgefühl der Gegenwart, auf eine Art postmodernen Mainstream, falls es ihn geben sollte? Die Antwort überlasse ich meiner Leserschaft – und erinnere mich eines Bonmots von Woody Allen: Ich wollte immer mal in mich gehen – aber leider war da auch niemand!

      Bei aller Selbstironie des amerikanischen Komikers gibt es hier wenig zu lachen und keinen Grund zu Schadenfreude. Denn dieses Zitat deutet auf ein Dilemma, das alle betrifft. Ein direkter Kontakt mit der inneren Lebenswirklichkeit scheint heute mehr denn je geboten, will man sich nicht verlieren im verwirrenden Angebot der Lebensmöglichkeiten, im Wald der Optionen, im Dschungel der Existenzverwirklichung. Der gelegentliche Besuch bei sich selbst, das Horchen auf eine innere Stimme, ist hier gewiss eine gute Investition, wo immer sie stattfinden mag, und sei es auf dem Jakobsweg. Allerdings bietet ein innerer Monolog wenig Inhalt, sucht er nicht früher oder später eine Brücke zur gemeinsamen Realität, die offenbar immer schwerer zu finden ist.

      Dem Psychoanalytiker und Fromm-Schüler Rainer Funk zufolge begegnet uns heute als neuartiger Persönlichkeitstyp der sogenannte Ich-Orientierte. Statt sich einer vorgefundenen Realität unterzuordnen oder auf hergebrachte Vorbilder zu rekurrieren, erzeugt dieser Zeitgenosse selbstbestimmt und frei von Vorgaben seine eigene Realität (Funk 2005). Ein europäischer Wanderweg nach Santiago, der, losgelöst von seinem traditionellen Hintergrund, neuerdings das eigene Selbst zum Pilgerziel erhebt, deutet womöglich in diese Richtung: die Orientierung am eigenen Ich als Grundzug der postmodernen Kultur?

      Bald Mitleid und bald Ärgernis heischen Zeitgenossen, die sich selbst wichtig nehmen ohne hinreichenden Grund. Bedauerlicherweise bleibt unsere Egozentrik für die nähere und weitere Umgebung nur interessant, solange das Ego auch für andere etwas hergibt. Vor allem Künstler und Kulturschaffende wissen um diesen Engpass, wenn sie aus dem kreativen Potenzial ihrer Persönlichkeit nicht allein neue Wirklichkeiten schöpfen, sondern diese einem Publikum erfolgreich präsentieren und somit verkaufen müssen.

      Demgegenüber zeigt ein Blick auf die Inszenierungen der heutigen Medienlandschaft, dass ein exklusiver Selbstbezug bald an gewisse Grenzen stößt. Das Ergebnis heißt dann Langeweile. Allerdings muss man nicht einen millionenfach verkauften Buchtitel als Referenz bemühen, diese These zu erhärten – es genügt ein Blick ins abendliche Fernsehprogramm.

      Die Zuschauer öffentlich-rechtlicher Sender werden hier bereits Anfang der 1990er-Jahre von einem neuartigen Format überrascht, das den Auftrag des Fernsehens als Dokumentator gesellschaftlicher Realitäten in bislang ungeahnter Weise erfüllt. In langen Einstellungen wird dem Publikum eine Alltagserfahrung präsentiert, die jeder aus eigenem Erleben kennt, aber bislang kaum für berichtenswert hielt: Ein Mann mittleren Alters im Trainingsdress, modisch frisiert mit damals aktuellem Minipli, von der Kamera in der kleinbürgerlichen Umgebung seines heimischen Schlafzimmers überrascht, spekuliert in unverfälscht rheinischem Dialekt minutenlang über die Herausforderungen eines arbeitsfreien Tages: Erst noch eine Zigarettenpause lang aus dem Fenster schauen oder unverzüglich die Betten aufdecken und den Teppich säubern, das ist hier die Frage.

      Wer die Einstellung zunächst für ein Amateurvideo halten muss, das unverdient seinen Weg in ein Massenmedium gefunden hat, wird bald eines Besseren belehrt. Es handelt sich um eine Folge der Dokumentarserie Die Fussbroichs (WDR ab 1990), Episoden aus dem Alltag einer Kölner Arbeiterfamilie, deren Staffeln monatelang von sich reden machten und aufgrund hoher Einschaltquoten inzwischen Kultstatus beanspruchen können.

      Bald war nicht mehr zu unterscheiden, was hier distanzlos berichteter Alltag einer deutschen Durchschnittsfamilie ist oder aber eine ironisch kolportierte Inszenierung aus dem Milieu der unteren Mittelschicht. Diese Begegnung mit einer banalen Realität, die gleichsam im Verhältnis eins zu eins alles abbildet, was jeder täglich erlebt oder in seinem eigenen begrenzten Umfeld erfahren kann, ist allerdings nur Startsignal einer Vielzahl ähnlicher Formate, die seither über ein geduldiges Publikum hereinbrechen – und zwar keineswegs ausschließlich im Privatfernsehen, das seinen Ruf konkurrenzloser Seichtheit zu verteidigen hat.

      Die 1999 in den Niederlanden entwickelte und heute bereits legendäre Serie Big Brother (erst RTL, dann Premiere) wird schnell zum Vorbild für andere Sendekonzepte. Ihre Staffeln beobachten bekanntlich das scheinbar alltägliche Leben und Lieben normaler junger Leute, die im engen Raum eines Wohncontainers ständig unter visueller Kontrolle und dabei im gegenseitigen Wettbewerb stehen.

      Hier präsentiert sich die einmalige Chance, aus dem Nichts in kurzer Zeit zum Fernsehstar zu avancieren. Man wird berühmt, indem man sein intimes Leben vor der Republik ausbreitet beziehungsweise vor einem Publikum, das bei jeder Ausstrahlung rund drei Millionen Zuschauer zählt. Besonders hohe Zuschaltquoten verbucht die Sendung, wenn sich ein bekannter Gesangsinterpret oder Sportler in den Container verirrt und die Inszenierung mit einer Aura jener Prominenz vergoldet, die andere über ihre Teilnahme am Wettbewerb erst erreichen wollen.

      Die ursprünglich in Großbritannien erfundene Erlebnisshow Ich bin ein Star – holt mich hier raus! wird seit 2004 auf RTL ausgestrahlt und in der fünften Staffel 2011 mit dem Untertitel


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