Die Akademisierungsfalle. Rudolf H. Strahm

Die Akademisierungsfalle - Rudolf H. Strahm


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in Deutschland und in Österreich. Etwas weniger stark verbreitet kennt man das duale Bildungssystem auch in den Niederlanden und in Dänemark.

      Die vergleichbaren Länder Westeuropas, die in den ► Grafiken 1.1, 1.2 und 1.3 blau aufgeführt sind, kennen hingegen keine formale betriebliche Berufslehre. Skandinavische Länder wie Schweden und Finnland legen zwar grossen Wert auf qualifizierte technische Ausbildungen und erreichen industriepolitisch und innovationsmässig eine exzellente Position – wir zeigen dies später in Kapitel 2. Aber die Berufsbildung in Schweden und Finnland findet vorwiegend in staatlichen Berufsschulen statt. Bezüglich der Arbeitsmarktintegration stehen sie mit mehr als doppelt so hohen Jugendarbeitslosenquoten deutlich schlechter da. Norwegen nimmt als Erdöl- und Fischereiland eine Sonderstellung ein, die nicht vergleichbar ist. Auch osteuropäische Industriestaaten, etwa die Tschechische Republik, kennen technische Fachschulen und Elemente einer qualifizierenden Berufsausbildung. Wir stellen in diesem Buch indes keine Vergleiche mit Osteuropa an, weil dessen historische Entwicklung und der Stand der Wirtschaft nicht mit Westeuropa vergleichbar sind.

      Soziale Illusion bezüglich hoher Maturitätsquoten

      In Ländern ohne formales Berufsbildungssystem erfolgt die nachobligatorische Bildungsstufe im Alter zwischen 15 und 19 Jahren (sogenannte Sekundarstufe II) viel häufiger an den Mittelschulen oder an Gymnasien. Diese Länder kennen folglich einen höheren prozentualen Anteil an Jugendlichen, die einen maturitätsähnlichen Abschluss vorweisen (► Grafik 1.4). Als Vergleichsgrösse dient die Maturitäts- oder Hochschulzulassungs­quote. In der Schweiz bezeichnet man den Abschluss als Maturität (auf­geteilt in gymnasiale Maturität, Berufsmaturität und Fachmaturität), in Deutschland als Abitur, in Frankreich als baccalauréat, in England als GCE A-Level.

      Grafik 1.4

      Man beachte in dieser Grafik die hohen Maturitätsquoten in Finnland mit 96 Prozent oder in Belgien mit 82 Prozent. Beide Länder haben durchaus gute Schulen. Finnland etwa steht regelmässig an der Spitze der europäischen Länder im Pisa-Rating, welches die schulisch-kognitiven Fähigkeiten bei Gleichaltrigen nach einem einheitlichen Test rangiert. Trotzdem weist Finnland eine andauernd hohe Jugendarbeitslosenquote von 18 bis 20 Prozent auf. Das Land hat, wie erwähnt, keine duale Berufslehre; und jenen Jugendlichen, die keine Hochschule durchlaufen können, fehlt eine berufspraktische Qualifizierung. Zwar gibt es auch auf der Mittelschulstufe spezielle Bildungsgänge in Finnland, aber sie sind nicht genügend berufsqualifizierend und zu wenig arbeitsmarktnahe ausgestaltet. Mehrere Lehrerdelegationen aus Finnland haben in den letzten Jahren die Schweiz besucht, um unser Berufsbildungssystem zu studieren.

      In den Ländern ohne Berufsbildungssystem läuft der «normale» Bildungsweg von der Maturität direkt an die Universitäten, Hochschulen oder technischen Hochschulen, die alle vollschulisch organisiert sind. So kann man beispielsweise in Italien diplomierter Schweisser an einer Hochschule lernen – ohne je in der Praxis gearbeitet zu haben. Oder in angelsächsischen Ländern kann man Pflegefachfrau («Nurse») an der Universität studieren. Die Ausbildung verläuft ohne berufspraktische Integration in die betriebliche Arbeitskultur, denn es fehlen die praktischen Anwendungsmöglichkeiten – oder diese beschränken sich auf ein Betriebspraktikum ohne formale Kompetenzziele.

      Solche Hochschulabsolventen sind zwar bezüglich Fachwissen durchaus (mehr oder weniger) gut gebildet, aber es fehlt ihnen das Anwendungskönnen, es fehlen die Skills, die praktischen Umsetzungskompetenzen in Qualitäts- und Präzisionsarbeit. Die Absolventen sind weniger ­arbeitsmarktfähig und beherrschen die anspruchsvollen Anwendungsprozesse der High-Tech-Produktion zu wenig. Diese Entwicklung führte diese Länder in die Akademisierungsfalle: Sie haben zu viele akademisch Gebildete und zu wenig praktisch Ausgebildete und in der Folge signifikant höhere Arbeitslosenquoten. Die Bildungselite erliegt der sozialen Illusion, dass eine höhere Bildung automatisch auch eine bessere berufliche Karriere mit sich zieht.

      In Ländern, in denen die Berufslehre nicht bekannt ist, bleiben jene Jugendliche, die den Weg an die Hochschulen nicht schaffen, als «Ungelernte» ohne nachobligatorische Berufsqualifikation am Rande des Arbeitsmarkts sitzen. Sie stecken beruflich zwischen Stuhl und Bank. ­Allenfalls durchlaufen sie ein On-the-job-Training ohne formalen Berufsabschluss, aber es fehlt ihnen das Rüstzeug, um neue Technologien und moderne Verfahrenstechniken rasch übernehmen und anwenden zu können. Wir werden im Kapitel 2 aufzeigen, wie die mangelnde gewerblich-industrielle Berufsqualifikation der Desindustrialisierung der Wirtschaft Vorschub leistet.

      Kommt dazu, dass mit dem Bologna-System ein akademisches Bildungsmodell wie eine Glocke über alle Länder Europas – ungeachtet ihrer unterschiedlichen Bildungssysteme – gestülpt wurde und dass nun eine Gleichmacherei erzwungen wird. Vor allem die Systeme der Berufsbildungsländer werden durch die Akademisierungstrends unterlaufen und abgewertet. Zahlreiche Indizien und Trends lassen eine Marginalisierung der berufspraktischen Ausbildung befürchten. Wir werden in den Kapiteln 3, 4 und 5 die Unvereinbarkeitsprobleme zwischen Bologna und den historisch gewachsenen Bildungssystemen ausführlich zum Thema machen.

      Berufslehre hat historische Wurzeln im deutschsprachigen Raum

      Die duale Berufslehre in den deutschsprachigen Ländern und ihrer Umgebung hat wirtschaftshistorische Wurzeln. Bereits die Zünfte im 16. bis ins 19. Jahrhundert kannten die «Meisterlehre». Der junge Mann ging zu einem Meister in die Lehre, lebte beim Meister und sass bei der Meisterin zu Tisch. Er erhielt einen «Lehrbrief» und nach drei oder vier Lehrjahren ging er auf Wanderschaft als Geselle. Nach manchen Zunft­regeln durfte er während Jahren nicht in seine Heimatstadt zurückkehren. Frühestens nach fünf Wanderjahren als Geselle konnte er mit den erworbenen «Gesellenbriefen» (Arbeitsbestätigungen) dann Meister werden, ein eigenes Geschäft eröffnen, in die Zunft eintreten und heiraten. Die ganze gewerblich-industrielle Berufsbildungstradition war fast ausschliesslich auf Männer ausgerichtet.

      Im deutschsprachigen Europa waren die Wandergesellen auch – modern ausgedrückt – wichtige Transporteure und «Diffusionsagenten» der neusten Technologien und Prozesstechniken innerhalb des Kontinents. Verbürgt ist solches etwa für die Steinmetzen, Uhrmacher, Buchdrucker, Schmiede, Waffenmacher, Lederveredler, aber auch für Handelsagenten und Einkaufsreisende. Wandergesellen waren übrigens auch wichtige Agenten aufklärerischer und reformatorischer Ideen.

      Aus dieser zünftischen Berufsbildungskultur hat sich in den deutschsprachigen Ländern im 19. Jahrhundert (etwa ab den 1860/70er-Jahren) ein gewerbliches Berufsbildungswesen herausgebildet. Erst im 20. Jahrhundert ist es gesetzlich verankert worden: In Deutschland in der Weimarer Republik und dann wieder ab 19488, in der Schweiz mit dem ersten eidgenössischen Berufsbildungsgesetz von 19339. Vorher gab es allerdings in der Deutschschweiz schon kantonale Gewerbegesetze, die die Berufslehre regelten und schützten.

      In Deutschland hat sich die traditionelle Berufslehrekultur bis heute in der deutschen Handwerksordnung erhalten. In 41 geschützten gewerblichen «Meisterberufen», die rund 95 Prozent der gewerblichen Ausbildungsverhältnisse abdecken, hat sich der «Meisterbrief» erhalten, der zur Betriebsgründung und – so die Rechtfertigung – zur Qualitätssicherung in der Berufsbildungstätigkeit verlangt wird. Es wird derzeit eine Diskussion geführt, ob sich das hohe deutsche Berufsbildungsniveau nach der Revi­sion der EU-weiten Anerkennung von Berufsqualifikationen im Zeichen der Personenfreizügigkeit noch aufrechterhalten lässt.10

      Diese kurze geschichtliche Betrachtung ist wichtig, um zu verstehen, dass die duale Berufsbildung einen gesellschaftlichen Träger braucht. Sie muss in der Wirtschaftswelt verankert sein. Die Lehrbetriebe und Berufsverbände müssen sich engagieren und sich auch aus Eigeninteresse als mitverantwortlich betrachten.

      Die Stärke des schweizerischen Berufsbildungsgesetzes


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