Die Akademisierungsfalle. Rudolf H. Strahm

Die Akademisierungsfalle - Rudolf H. Strahm


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man sich um Berufsleute wie Sven Schütz.

      Die Motivationsprobleme der Teenagerzeit jedenfalls sind Vergangenheit. «Ich habe ein Ziel und will etwas erreichen», sagt Schütz. Kommt dazu, dass ihn heute just die Dinge interessieren, die ihn als Teenager gelangweilt haben – etwa die Allgemeinbildung. «Eines Tages werde ich mich in diese Richtung auf jeden Fall weiterbilden», ist Sven Schütz überzeugt. Hat er das Gefühl, Zeit verschwendet zu haben? «Keineswegs! Für Jungs, wie ich einer war, ist dieser Weg perfekt.» Er habe die Zeit gebraucht. Und: «Ich habe ja alle Möglichkeiten. Das macht diesen Weg so interessant.»

      Praktische Intelligenz kann Persönlichkeitseigenschaften umfassen – etwa Zuverlässigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Sozialkompetenz, Partizipationsfähigkeit, Teamfähigkeit, emotionale Intelligenz, Intuition –, auch werden darunter vor allem handwerkliches Geschick, räumliches Vorstellungsvermögen, geschickter Umgang mit Materialien verstanden. Der Bildungsforscher Markus P. Neuenschwander, der für die Schweiz die umfassendste Langzeitanalyse über die Wege zur Berufsintegration durchgeführt hat, kommt zum Schluss: «Beispielsweise sind handwerkliche Kompetenzen wichtig für eine handwerklich-technisch anspruchsvolle Lehre. (…) Dieser Befund vermittelt gerade Jugendlichen mit schlechten schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik und aus Realschulen eine positive Perspektive, weil sie in Berufen erfolgreich sein können, in denen Anforderungen jenseits dieser schulischen Leistungen wichtig sind.»16

      Für Jugendliche kann die Berufslehre eine Art Befreiung vom ständigen Zwang zu schulischer Leistung bedeuten. Mit handwerklicher und praktischer Aktivität werden Kräfte und Entwicklungspotenziale freigelegt, die die Jugendlichen und ihre Eltern nicht für möglich gehalten haben: «Ich schraube, also bin ich.»17 Die Erfahrung in den Berufsfachschulen zeigt, dass schulisch Schwächere oder «Lernfaule» wieder mehr Lernmotivation und Interesse im Fachunterricht entwickeln, einfach weil sie in ihrer betrieblichen Erfahrung Anstoss und Motivation dazu erhalten. Eltern, die bei der Richtungswahl ihrer fünfzehnjährigen Kinder im Zweifel sind (was normal ist und häufig vorkommt), sollten diese motivierenden Anstösse in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Und sie sollten auch bedenken, was wir ausgiebig im Kapitel 3 darstellen, dass die Berufslehre heute in ein durchlässiges Bildungssystem eingebettet ist – immer nach dem Motto: «Kein Abschluss ohne Anschluss».

      Neben den in diesem Buch wiedergegebenen authentischen Berufs­porträts von Rahel Eckert-Stauber zeugt eine ganze Reihe anderer publizierter Berufsbiografien vom Entwicklungs- und Talentpotenzial der berufspraktischen Ausbildung.18 Wer in der Praxis steht oder gestanden hat, weiss intuitiv und erfahrungsmässig, was praktische Intelligenz bedeutet. Bei der Auswahl von Lehrlingen etwa kommt diese Intuition bei den Ausbildnern oder zukünftigen Chefs durchaus noch zum Zug.

      Weltweite Debatte um Arbeitsmarktfähigkeit

      Welche Kompetenzen und Neigungen sind denn für die Arbeitsmarktfähigkeit und die Selbstbehauptung in der Lebenswelt entscheidend? Zweifellos hat der amerikanische Kultursoziologe Richard Senett mit seinem epochalen Buch «Handwerk» die Wertschätzung der handwerklichen Fähigkeiten, eben auch der praktischen Intelligenz, auf ein akademisches Niveau gehoben.19 Senett zieht die landläufigen IQ-Tests in Zweifel: «Der für handwerkliche Arbeit typische Dialog mit den Materialien lässt sich durch Intelligenztests kaum erfassen.» «Menschen besitzen mehr Fähigkeiten, als der Stanford-Binet-Test (IQ-Test) misst.» Im Gegensatz dazu beruft sich der schmalbrüstige, elitäre Bildungstechnokrat auf die Formel, die ihm beim Urteilen sicheren Halt verspricht: «Intelligenz ist, was der Intelligenzquotient (IQ) misst, punkt.»20

      Senett hat die Diskussion um die Bildungsziele stark aufgemischt und die Wertschätzung der praktischen Intelligenz zur Geltung gebracht. Besonders in Deutschland ist seit einiger Zeit eine recht heftige Debatte für und gegen die Akademisierung im Gange21. Die grosse internationale Personalvermittlungs- und Beratungsfirma McKinsey & Company zeigte aufgrund der Befragung von 2600 Arbeit­gebern und 5300 Jugendlichen in der Europäischen Union, dass das Bildungssystem in Europa stark am Arbeitsmarkt vorbei orientiert ist.22 Insbesondere fordert sie mehr Ausbildung von mittleren Kadern mit technischer Ausrichtung. Auch dies eine Bestätigung, dass Europa mit seinem Bildungssystem in der Akademisierungsfalle steckt.

      Das Bildungssystem in der Schweiz: Vorzüge und Disparitäten

      Kommen wir zurück zur Frage der Arbeitsmarktfähigkeit oder Employability, die aus den verschiedenen Bildungsgängen resultiert. Die aus statistischen Auswertungen abgeleitete Faustregel lautet: Wer eine Berufslehre absolviert hat, unterliegt einem dreimal kleineren Risiko, arbeitslos zu werden oder langzeitarbeitslos zu bleiben als Ungelernte. Und wer eine Berufsbildung hat, riskiert zweieinhalb Mal weniger, Sozialhilfebezüger zu werden.23

      Diese grobe Regel zeigt sich nicht nur in Momentaufnahmen, sondern auch in der längerfristigen Wirtschaftsentwicklung, wie sie die ► Grafik 1.5 darstellt: Ungeachtet der Konjunkturlage liegt die Arbeitslosigkeit von Personen ohne nachobligatorische Ausbildung stets deutlich höher als jene von Personen mit einer Berufslehre und noch etwas höher als jene von Personen mit einem Tertiärabschluss (Hochschule oder Höhere Berufsbildung).

      Nach ökonomischem Lehrbuch ist die Arbeitslosigkeit eine Funktion des Wirtschaftswachstums. Die ► Grafik 1.5 relativiert diese Lehrbuchdoktrin: Die Arbeitslosigkeit schwankt zwar im Konjunkturzyklus mit den veränderten Wachstumsraten durchaus mit, aber das Niveau Arbeitslosigkeit ist nicht eine Funktion des Wachstums, sondern primär des Bildungsstandes und des Bildungssystems.

      Grafik 1.5

      Wir haben innerhalb der Schweiz eine recht grosse Kluft in der Berufsbildungsintensität zwischen den sprachregionalen Landesteilen: In der Deutschschweiz beginnen gegen 70 Prozent der Jugendlichen ihre nach­obligatorische Ausbildung mit einer Berufslehre (um dann höhere Bildungsstufen anzuhängen), während in der französischsprachigen Schweiz und im Tessin nur 40 bis 45 Prozent eines Jahrgangs eine duale Berufs­lehre durchlaufen (► Grafik 1.6). Vom Bodensee bis zum Genfersee besteht ein enormes Gefälle in der betrieblichen Berufsbildungskultur: Während in der Ostschweiz die Berufsbildungsintensität der Betriebe mit ca. 8 Lehrstellen auf 100 Vollzeitbeschäftigte markant hoch ist, beträgt sie im Tessin nur knapp 4 Prozent und in Genf gar nur etwa 2 Prozent. Der schweizerische Durchschnitt liegt bei 5,7 Prozent, also 5,7 Lehrstellen pro hundert (vollzeitäquivalente) Beschäftigte. Lange Jahre galt die ungeschriebene Regel für die Betriebe: Sechs Ausbildungsplätze pro 100 Vollzeitstellen ist der Sollstandard.

      Grafik 1.6

      Die Landeskarten in ► Grafik 1.7 machen deutlich, wie die lateinische Schweiz höhere Maturitätsquoten (oberer Grafikteil) und ebenso höhere Universitätsabschlussquoten (unterer Teil) als die deutsche Schweiz aufweist. Dies ist historisch durch die unterschiedlichen Bildungstraditionen bedingt (keine Zünfte in der Romandie und im Tessin) und markiert die Bevorzugung der vollschulischen Bildungsgänge durch die Bildungs­eliten in der lateinischen Schweiz.

      Grafik 1.7

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