Die Akademisierungsfalle. Rudolf H. Strahm
vier Lehrjahren) und «Eidgenössisches Berufsattest EBA» (mit zwei Lehrjahren) schützt. Jeder KMU-Inhaber oder Personalverantwortliche in den Firmen im ganzen Land weiss, was die rund 230 EFZ-Berufstitel und die rund 50 EBA-Abschlüsse wert sind, was man von den Berufsleuten an Wissen und Kompetenzen erwarten kann11.
Ganz besondere Bedeutung hat die Beteiligung der Wirtschaftsverbände (der sog. Organisationen der Arbeitswelt OdA) an der Definition der Ausbildungsanforderungen. Die Curricula und Lernkompetenzen werden für jeden der 230 Berufe vom Bund unter Mitwirkung der OdA definiert und – was bezüglich des technologischen Wandels wichtig ist – alle fünf Jahre überprüft und an die neuen technologischen Anforderungen angepasst. Dieses System gewährt eine hohe Arbeitsmarktfähigkeit (sog. Employability) der Berufe nach dem Lehrabschluss. Insgesamt führt dieses arbeitsmarktnahe System zur sprichwörtlich tiefen Jugendarbeitslosigkeit und zu tiefen Erwerbslosenquoten für Erwachsene generell. (In Kapitel 3 stellen wir mehr Einzelheiten des Berufsbildungssystems vor und beschreiben die Übergänge von Bildungsstufe zu Bildungsstufe.)
Die Pädagogik der Arbeitsmarktbefähigung
Was führt zum Erfolg der dualen Berufsbildung? Wie eingangs erwähnt, ist sie bezüglich der Arbeitsmarktfähigkeit (oder Employability) den vollschulischen Bildungssystemen überlegen. Hier lohnt es sich, die Zusammenhänge anhand der Berufspädagogik etwas näher zu betrachten.
Das duale Berufsbildungssystem leitet seine besondere Bedeutung davon ab, dass es auch praktische Fähigkeiten weckt, qualifiziert und wertschätzt. Was heisst das? Margrit Stamm, emeritierte Professorin der Pädagogik an der Universität Freiburg (Schweiz) und frühere Lehrerin, spricht von «praktischer Intelligenz», die mit der dualen Berufslehre geweckt, gefördert und schliesslich qualifiziert wird. Konkret heisst «dual»: Sowohl schulische als auch berufspraktische Kompetenzen werden gefördert. Die Leistungsbeurteilung in der beruflichen Grundbildung besteht einerseits aus den Noten der schulischen Fächer der Berufsfachschule oder Kaufmännischen Berufsschule (Fachunterricht und allgemeinbildender Unterricht) und andererseits der Benotung der Anwendungskompetenzen der Lernenden in der betrieblichen Praxis. Man vermittelt und prüft also Wissen (Knowledge) und Können (Skills).
Bei den gewerblich-industriellen Berufen ist die Sprachkompetenz (z.B. im Lernbereich Sprache und Kommunikation) keine «Fallnote». Das hat folgende Konsequenzen: Wenn ein Lernender an der Lehrabschlussprüfung in Deutsch ungenügend ist, aber gut benotet in den Berufsfächern abschliesst, wird er die Prüfung dennoch bestehen und das EFZ erhalten. Damit werden auch einseitig begabte oder schulisch Schwächere oder ausländische Jugendliche mit mangelhaften Deutschkenntnissen (oft bedingt durch späte Einwanderung) die Prüfung bestehen. In einer vollschulischen Bildung, im Gymnasium etwa, würden sie wegen ihrer Sprachdefizite nicht reüssieren. Auch das Angebot einer niederschwelligen Ausbildung mit Berufsattest EBA in fünfzig verschiedenen Berufsfeldern ermöglicht eine Qualifizierung von schulisch Schwächeren für das spätere Berufsleben, wobei sie bei einer späteren Berufsbildung die erworbenen EBA-Schulstufen voll anrechnen können.
Was heisst «praktische Intelligenz»? Einfach ausgedrückt bedeutet es, «Fachwissen auch anwenden zu können». Margrit Stamm sagt dazu: «Von Professionalisierungsansätzen kann zur Kenntnis genommen werden, dass hohes Fachwissen allein noch nicht zu einem hohen Expertisierungsgrad führt, sondern nur zusammen mit der Fähigkeit, es auch anwenden zu können.»12 Anders ausgedrückt, «kann man allgemein praktische Intelligenz auch als die Fähigkeit verstehen, komplexe Probleme im Alltag zu bewältigen und gute Lösungen für sie zu finden».13
«Wir alle kennen Menschen mit goldenen Händen und solche mit klugen Köpfen, aber nicht sehr viele, die in beiden Bereichen stark sind», resümiert Margrit Stamm ihren Befund, der wohl auch unserer Alltagserfahrung entspricht. Mit ihrer Schrift «Kluge Köpfe, goldene Hände» hat sie in der Schweiz der Diskussion über Leistungsexzellenz eine neue Richtung gegeben.14 Der internationale Mainstream in der Pädagogik – nämlich die Formel: mehr und höhere Bildung gleich mehr Kompetenz – wird damit relativiert.
Für die praktische Intelligenz und die «sogenannten nichtkognitiven Fähigkeiten gibt es keine allgemeingültige Definition», heisst es im Bildungsbericht Schweiz.15 Die nichtkognitiven (nichtschulischen, also auch praktischen) Fähigkeiten sind nicht gleichermassen mit simplen Prüfungen und standardisierten Tests messbar wie die schulischen Fächer – schon deshalb werden jene von der Bildungselite nicht gleich gewichtet.
Für schulmüde Jungs ist eine Lehre perfekt
«Ich war mit Abstand der faulste Schüler der ganzen Oberstufe», sagt Sven Schütz. Der 25-Jährige schliesst demnächst sein Studium als Maschinenbauingenieur an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Brugg mit einem Bachelor ab. Er kann sich gut vorstellen, später den Master anzuhängen oder eines Tages noch etwas anderes zu studieren. Denn inzwischen hat ihn der Ehrgeiz gepackt.
Das war nicht immer so. Als 16-Jähriger erfüllte Schütz sämtliche Klischees eines schulmüden Jungen: Die Schule hing ihm zum Hals raus, Französischwörter lernen war ihm ein Graus und Hausaufgaben machte er aus Prinzip nicht. Das zeugte nicht etwa von mangelnder Intelligenz. «Ich sah schlicht keinen Sinn darin, für die Schule zu lernen.» Jeder Versuch, Sven zu mehr Einsatz zu motivieren, lief ins Leere. So wehrte er als 11-Jähriger auch den kleinen Bestechungsversuch seiner Eltern ab, die ihm 200 Franken boten, wenn er sich wenigstens an die Kantonsschulprüfung anmeldete.
Die Schule konnte bei Schütz nicht punkten. Nach der auf absoluter Sparflamme durchlaufenen obligatorischen Schulzeit entschied er sich deshalb für eine Lehre als Konstrukteur. «Ich habe mich als Kind sehr für Aviatik interessiert und baute in meiner Freizeit unzählige Modellflugzeuge.» Das Planen, Entwickeln und Zeichnen von Maschinen war ihm folglich vertraut. «Am Anfang war die Lehre extrem spannend», erinnert sich Schütz. «Ich wurde aus der Bedeutungslosigkeit meines Teenageralltags gerissen und war auf einen Schlag von vielen erwachsenen Ingenieuren umgeben.» Es sei ein gutes Gefühl gewesen, bereits nach wenigen Monaten Lehrzeit einzelne, von ihm gezeichnete Teile an einer millionenteuren Maschine zu sehen. Und endlich gelang es dem rebellischen Jugendlichen, sich als Teil eines Ganzen zu sehen und sich auch mal unterzuordnen.
Auf die anfängliche Begeisterung folgte allerdings bald die Ernüchterung: Nach dem ersten Lehrjahr merkte Schütz, dass er als Konstrukteur zwar einen interessanten Beruf haben, aber nicht der selbstbestimmte, unabhängige Macher sein würde, als den er sich in seinen Teenagerfantasien gesehen hatte. «Ich bin mit falschen Vorstellungen in die Lehre gestartet», stellt Schütz fest. Er habe sich ausgemalt, er sei bereits nach vollendeter Lehre eine Art Ingenieur. Im Laufe der Lehre habe er aber schnell gemerkt, dass er auch als ausgebildeter Konstrukteur bloss Befehlsempfänger bleiben würde. Als ihm dann während der Vorschule zum militärischen Fallschirmspringer ein hoher Militär auch noch klipp und klar sagte, dass er ohne Matura unmöglich Fallschirmaufklärer-Offizier werden könne, erlitt Schütz' Selbstbewusstsein erstmals ernsthafte Kratzer. «Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich wohl etwas mehr anstrengen musste, wenn ich meine Ziele erreichen wollte.»
Das gab den Ausschlag. Schütz erwachte aus seinem Sparmodus. Ebenso konsequent wie er sich zuvor verweigert hatte, machte er sich jetzt ans Lernen. Während des dritten und vierten Lehrjahres besuchte Sven Schütz den Vorkurs für Weiterbildungen, der ihn zu einer prüfungsfreien Aufnahme in die Berufsmaturitätsschule (BM) nach der Lehre berechtigte, absolvierte gleich anschliessend die technische BM und startete schliesslich sein Studium als Maschinenbauingenieur.
Jetzt steht er kurz vor dem Abschluss. Nach dem Studium will Sven Schütz ein paar Jahre als Maschinenbauingenieur arbeiten, bevor er sein Studium weiterführt. Seine beruflichen