Bemerkenswert normal. Eva Bilhuber
Generation.7
Aber auch ohne diese statistischen Hinweise können wir in unserem direkten Umfeld beobachten, dass immer mehr Menschen Mühe haben, den gesellschaftlichen Rhythmus mitzuhalten, nur noch auf Reserve fahren, erschöpft aufgeben oder immer häufiger zu fragwürdigen oder gar selbstschädigenden Hilfsmitteln greifen. Unsere Wohlstandsgesellschaft scheint uns langsam aufs Gemüt zu schlagen. Die erdachte Formel «Mehr Wohlstand, mehr Glück» wandelt sich offensichtlich gerade sukzessive in «Mehr Wohlstand, mehr Stress». Wir sind schlicht müde, ständig nur auf Durchreise zu einem anderen, besseren Leben zu sein. Wir haben sie satt, diese unablässige Jagd nach unserem perfekten Lebensglück, die uns nicht glücklicher, sondern paradoxerweise immer unglücklicher werden lässt. Denn all unserer Bemühungen zum Trotz, weiß es das Glück anscheinend nicht zu honorieren, dass wir es so angestrengt optimieren wollen.
Alternativlos in der Multioptionsgesellschaft
Wir ahnen also, dass da irgendwas grundlegend falsch läuft, wenn wir unser Leben durch und durch nach ökonomischen Kriterien gestalten. Wenn Spontanität nur noch in der Werbung existiert und sich das Familienleben mehrheitlich in Whatsapp abspielt, weil wir uns nur noch selten im «Real Life» begegnen. Wenn alles, was verdient, als echtes, wirkliches Leben aus Fleisch und Blut bezeichnet zu werden, dem Optimierungsprimat zum Opfer fällt: mit der zufällig in der Stadt getroffenen Nachbarin einen Kaffee trinken gehen, spontan Freunde besuchen, endlich mal wieder die Gitarre aus der Ecke holen, nach Herzenslust ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte genießen oder die Australienreise machen, von der wir schon lange geträumt haben …
Wir merken, dass uns die permanente Selbstoptimierung genau um das bringt, was wir zu optimieren suchen: unser Leben. Aber welche Alternativen haben wir eigentlich? Oder sind wir unserem selbstprovozierten Gesellschaftstrend zur Selbstoptimierung tatsächlich alternativlos ausgeliefert? Gibt es neben dem Run auf die Superlative, der Jagd nach Konsum- und Lebensmaximierung tatsächlich keine anderen Lebensentwürfe?
Doch. Es gibt sie, die Konsum- und Leistungsverweigerer, die Aussteiger, die den Stecker ziehen und in totaler Askese leben. Zumindest widmete «Der Spiegel» ihnen vor nicht allzu langer Zeit eine ganze Ausgabe.8 «Less is more» bzw. «Verzicht ist geil» heißt die Devise dieser Lebensentwürfe, die der Leistungs- und Fortschrittshysterie entsagen. Menschen, die nur von Blättern und Pilzen leben oder ohne Geld auskommen und ihre Lebensmittel aus dem Supermarktcontainer besorgen oder beschließen, das Leben nur noch mit hundert Sachen zu verbringen.9 Aber sind das wirklich brauchbare Alternativen zur Zwangsjacke des Selbstoptimierungprimats? Klingt irgendwie genauso einengend. Obwohl diese Lebenskonzepte uns zum Nachdenken anregen und deshalb für die gesellschaftliche Weiterentwicklung durchaus wertvoll sind, beschleicht einen doch das unbestimmte Gefühl, dass es sich hierbei auch wieder nur um einen verkappten Run auf Superlative handeln könnte. Lediglich mit anderen Vorzeichen: anstelle von maximiertem Konsumrausch maximierte Konsumaskese.
Bleibt uns also wirklich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Zwischen asketischer Laufsteg-Perfektion à la Victoria Beckham oder genauso inszeniertem Imperfektions-Exhibitionismus à la Lena Dunham, die schräge Nervensäge der Fernsehserie «Girls»?10 Bietet unsere reichhaltige Multioptionsgesellschaft tatsächlich alles, nur ironischerweise kein Vorbild für eine normale Lebensführung? Einen Weg zwischen Exzess und Askese?
Ist das Normale noch zu retten?
Tatsächlich scheinen wir mit der Bezeichnung normal gewaltig auf Kriegsfuß zu stehen. Zumindest hören wir es gar nicht gern, wenn jemand uns oder unseren Lebensstil mit normal bezeichnet. Uns selbst käme es schon gar nicht über die Lippen. Das muffelt gefährlich nach Bohnerwachs, Bratwurst und Irish Moos. Und sofort haben wir das Gefühl, unserer eigenen Beerdigung ein wenig näher zu sein. Normal assoziieren wir mit spießig, faul, wenig ambitiös, gutbürgerlich, angepasst, nichts Besonderes, langweilig und auf jeden Fall mit absolut uncool und nicht erstrebenswert. In unserer Selbstoptimierungsgesellschaft als normal bezeichnet zu werden kommt schon fast einer Beleidigung gleich. Gar nicht erst zu sprechen von mittelmäßig oder durchschnittlich. Da stellen sich bei den meisten von uns alle Haare auf. Streben wir doch permanent danach, besser zu sein als andere, uns vom gewöhnlichen Durchschnitt abzuheben. In unseren Ausbildungen, in unserer Freizeit und vor allem bei unserer Arbeit.
Es ist auch irgendwie verständlich, dass wir dieses Attribut so wenig mögen, wenn man bedenkt, dass einfach nur normal zu sein gerade in der Wirtschaftswelt durchaus auch existenzbedrohlich werden kann. Denn wer stellt angesichts von Unternehmensleitbildern, die eine Winner- oder High-Performance-Kultur predigen und zu einer elitär zelebrierten Talent-Popstarkultur aufrufen, ernsthaft jemanden ein, der bekennt, einfach nur ganz normal zu sein? «Up or out», diese Devise scheinen immer mehr zu fürchten, die sich lediglich hinter vorgehaltener Hand dazu bekennen, dass sie ihren ganz normalen Job einer aussichtsreichen Karriere vorziehen würden.11
Aber auch in anderen Lebensbereichen empfinden wir die Kategorie normal in Bezug auf unsere Lebensführung als abwertend. Ja, überhaupt fällt einem seit «Fifty Shades of Grey» nun wirklich kein Lebensbereich mehr ein, in dem es heute noch attraktiv wäre, als normal bezeichnet zu werden.
Lediglich, wenn es aus dem Mund eines Arztes, eines Atomkraftwerkbetreibers oder eines Piloten kommt. Hier sind wir regelmäßig erleichtert, wenn die Diagnose «Alles normal» lautet. In jedem anderen Kontext aber sind wir wohl ähnlich unglücklich oder enttäuscht, wenn etwas nur normal ist, wie liebende Eltern über den nur vierten Rang ihres Nachwuchses beim jährlichen Skikursabschlussrennen. Und wenn nicht enttäuscht, so sind wir mindestens gelangweilt und entziehen unsere Aufmerksamkeit, falls mal nur von einem Stau und nicht gleich von Verkehrschaos die Rede ist. In dem Maße, wie wir das Normale aus unserem Leben verdammen, verschwindet es auch zunehmend aus unserem Blickfeld.
Das Normale ist besser als sein Ruf
Aber ist dieser diskriminierende Blick gerechtfertigt? Wohin führt es uns eigentlich, wenn alle auf Teufel komm raus versuchen, außergewöhnlich zu sein? Das heißt, wenn alle einen Marathon laufen, eine Schönheits-OP machen, einen Auslandsaufenthalt absolvieren oder das Abitur machen? Dann wird genau das zur Norm und ist schon bald nichts Besonderes mehr.12 In einer Welt, in der alle außergewöhnlich sind – oder es zumindest sein wollen –, schleift sich das vermeintlich Außergewöhnliche ab und wird plötzlich zum Mainstream, zum Gewöhnlichen. Wie Voltaire bereits wusste: «Nichts langweilt mehr als außergewöhnliche Dinge, die alltäglich geworden sind.»
Die Masse macht also aus etwas Exklusivem genau sein Gegenteil, auch wenn wir es nicht immer gleich bemerken. So wissen wohl die wenigsten von uns, dass es zum Beispiel mittlerweile mehr Rolex-Uhren auf dieser Welt gibt als VW Käfer13. Und dennoch sitzen wir immer noch dem Glauben auf, dass eine Rolex-Uhr etwas Besonderes und Exklusives ist. Dabei ist es eigentlich der alte VW Käfer.
Was, wenn wir in Bezug auf unsere Lebensgestaltung dem gleichen Denkfehler aufsitzen? Wenn das Streben nach einem außergewöhnlichen Leben zur Massenveranstaltung, zum Mainstream wird, dann müsste das Streben nach dem Normalen doch wieder etwas Exklusives werden. Könnte es also sein, dass eine normale Lebensführung heute wieder das Potenzial hat, etwas Außergewöhnliches zu sein? Was also, wenn wir uns alle irren, indem wir uns ständig für unser normales, durchschnittliches Leben grämen und frustriert nach einem anderen Leben trachten? Wenn wir glauben, dass das Leben am rechten Rand der Gauß’schen Normalverteilung mit großen anerkannten Erfolgen, Berühmtheit und Reichtum das Erstrebenswertere, das Bessere sei als unseres, im heimeligen dicken Bauch der Normalität? Was, wenn wir dadurch verpassen, zu erkennen, dass es sich vielleicht genau umgekehrt verhält: dass unser normales Leben das Zeug hat, das eigentlich Begehrenswerte, Außergewöhnliche, Bemerkenswerte zu sein?
Normal, aber sexy
Zugegeben, auch ich finde es kaum vorstellbar, dass «normal» tatsächlich das Potenzial zum neuen Aufreger haben soll. Und vielleicht ist es ja auch nur eine Fata Morgana, die ich in unserer überhitzten Größer-am-größten-Gesellschaft da unscharf flimmernd am Horizont wähne. Zumindest aber meine ich, ein paar Unruhestifter in den klassischen Selbstoptimierer-Domänen – wie Mode, Lifestyle, Luxus, Karriere, Freizeitsport – ausmachen zu können. Bezieht man