Bemerkenswert normal. Eva Bilhuber

Bemerkenswert normal - Eva Bilhuber


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Frage gelten zu lassen, ob ein normaler Lifestyle nicht vielleicht doch das Zeug zum Außergewöhnlichen, zum Exklusiven, vielleicht sogar zum Begehrenswerten, definitiv aber zum neuen «sexy» hat. Hier also meine persönliche Liste von zufälligen und unsystematischen Alltagsbeobachtungen, in denen ich das sonst so verschmähte Normale als wiederentdeckte Attraktion oder gar Erfolgsprinzip gewähnt habe:

      ► Mode: Normaler Alltagslook wird laufstegtauglich. Wenn wir uns ins Feld der Mode begeben, dann können wir beobachten, dass «normal» hier derzeit Hochkonjunktur feiert. Unter dem Stichwort «Normcore» erobert derzeit ein Modetrend die Laufstege, der total normale Alltagskleidung als modisch preist.14 Exklusivlabelbekleidung mit dickgedruckten Markennamen auf der Brust war gestern.15«In» sind dagegen nun – man glaubt es kaum – die verpönten Jogginghosen mit karierten Hemden aus den großen Einkaufscentern. Gerade Betuchte versuchen mehr und mehr, diesen lässigen Understatement-Schick aus der Mitte unserer Gesellschaft nachzueifern.16 Er dient sogar den großen High-Class-Modedesignern als «Muse» für ihre Modekollektionen.17 Und umgekehrt scheint sich die Designer-Elite um Karl Lagerfeld & Co. heute auch nicht mehr zu schade, für Billigketten und deren «normale» Kunden zu arbeiten.18

      ► Lifestyle: Die Sehnsucht nach dem normalen Leben. Der beobachtbare anhaltende zweistellige Auflagenzuwachs von Zeitschriften rund um Garten, Küche und Natur lässt viele Verlage von Tageszeitungen erblassen, die angesichts ständig sinkender Auflagen um ihr Überleben kämpfen.19 Daraus ein Comeback eines normalen Lebensstils ableiten zu wollen, ist vermutlich etwas gewagt. Zumindest drückt sich darin aber eine gewisse Sehnsucht nach dem einfachen, normalen und nicht-virtuellen Leben aus.

      Vielleicht ist es auch diese Sehnsucht, die erklären kann, warum der gehobene Mittelstand heute oft nicht mehr in bessere Quartiere zu Chefärzten, Bankern und Anwälten umsiedelt, selbst wenn sie es sich finanziell leisten könnten.20 Es scheint fast so, als glaubten sie, damit ihre Mittelschicht-Herkunft zu verraten. Unabhängig von ihrer Einkommenssituation scheuen sie sich, ihre Verwurzelung in der sogenannten Mittelschicht zu kappen, fühlen sie sich mit ihren alten Studienkollegen und bisherigen Nachbarn innerlich immer noch mehr verbunden als mit der gesellschaftlichen Elite. Vielleicht, weil ihnen bewusst ist, dass Gesellschaften in der Vergangenheit meistens aus ihrer Mitte heraus verändert wurden? Vielleicht aber auch, weil sie einfach nur intuitiv spüren, dass das normale Leben Vorzüge, Qualitäten und ein einzigartiges Lebensgefühl mit sich bringt, das nur mitten in der Gesellschaft entstehen kann?

      Sicherer scheint hingegen, dass diejenigen, die wir insgeheim und unausgesprochen beneiden, weil sie all das zu besitzen scheinen, was wir so gern hätten – nämlich Ruhm und Reichtum – immer wieder äußern, wie sehr sie sich ein normales Leben wünschten. Zumindest könnte man die Aussage von Prinz William, er wäre manchmal gern unsichtbar,21 so verstehen, oder den Werbespruch eines Luxushotels in St. Moritz: «Zum Glück gibt es noch Orte auf der Welt, wo sich kein Mensch nach Ihnen umdreht.» Dass ein normales Leben begehrenswerte Qualitäten für die Upperclass haben könnte, kann man auch daran ablesen, dass Milliardäre öffentlich beginnen, sich über den Fluch des Reichtums zu beschweren. Wie man nachlesen kann, offensichtlich kein Witz, sondern bizarre Realität.22

      ► Luxus: Begehrenswerte Normalität. Kann das sein? Ist das so verpönte normale Leben tatsächlich luxustauglich geworden? Während wir Normalos alle immer noch vom großen Luxus in Form von Rolex-Uhr, Hermès-Tasche oder Porsche-Cabrio träumen, scheinen wir ganz zu übersehen, dass wir einen Luxus ganz offensichtlich schon haben: in Form von unserem unsichtbaren, langweiligen, normalen Leben. Denn heute scheint Luxus gerade darin zu liegen, sich diesen gar nicht mehr zu leisten. So ist auch in Bezug auf unser Luxus(er)leben offensichtlich gerade ein Paradigmenwechsel im Gange, nach dem Motto: Luxus ist, wenn ich ihn nicht mehr brauche.23 Satt an Konsum sind wir vor allem hungrig nach immateriellen Unplugged-Erfahrungen: den Sternenhimmel sehen, in der Fankurve den heimischen Fußballclub anfeuern, in der WG Spaghetti kochen und am Küchentisch über Weltpolitik philosophieren oder ganz allgemein Zeit mit der Familie und Freunden verbringen. Je künstlicher unsere Welt wird, desto attraktiver wird für uns wieder das authentische, nicht inszenierte, greifbare normale Leben.

      Auch auf der materiellen Ebene findet eine Rückbesinnung auf das schlichte, konkrete, fassbare, naturnahe Elementare statt. Dinge, die mit viel handwerklicher Expertise hergestellt werden, sind heute exklusiver als inflationärer Prunk.24 Sprich handgemachter Alpkäse statt Kaviar. Das echte, bodenständige, unsichtbar gewordene normale Leben mit all seinen Unvollkommenheiten und Zufällen scheint in einer perfekt optimierten medialen Welt wieder zur begehrenswerten Exklusivware zu werden.

      ► Karriere: Normale Jobs sind wieder cool. Zu begreifen, dass ein stabiler und kontinuierlicher vierter Platz gewisse Vorzüge gegenüber einem flüchtigen, sehr riskanten ersten Platz hat, fällt unserer Selbstoptimierer-Seele ausgesprochen schwer. Auch wenn ein aktueller deutscher Hit uns diese Lebensstrategie mit Preisung der Wolke 4 (statt 7) schmackhaft machen will.25 Aber es fällt auf, dass es immer mehr Menschen zu geben scheint, die ihre Karriereentscheide genau im Sinne dieser Strategie fällen. So können wir beobachten, dass zum Beispiel die Absolventen der Top-Unis immer weniger scharf auf glamouröse Top-Jobs im Banking oder bei Unternehmensberatungen zu sein scheinen, sondern eher etwas Bodenständiges suchen, das mehr Work-Life-Balance und Spaß verspricht. «Normale Jobs scheinen das neue Cool»26 – das entspricht dem generellen Trend, dass immer weniger Menschen überhaupt noch einen prestigeträchtigen Management-Posten anstreben.27 Im Gegenteil. Es scheinen sogar immer mehr Menschen bereit zu sein, sich von Jobs mit mehr Geld und Status zu verabschieden zugunsten von Jobs mit mehr Freizeit und Freiheit. «Downshifting» nennt sich dieser Trend, bei dem Menschen freiwillig eine Karrierestufe wieder rückgängig machen bzw. darauf verzichten.28 Mindestens aber versuchen immer mehr Menschen, sich eine Auszeit – ein sogenanntes Sabbatical – zu organisieren, um sich eine Pause von ihrem stressigen Wettbewerbsleben in der Endlosschleife zu gönnen.

      ► Freizeitsport: Die Entdeckung der Besonnenheit. Gerade im Freizeitsport – dieser wohl ältesten Domäne gesellschaftlichen Wettbewerbs – scheinen wir aber nach wie vor besonders anfällig, unsere Optimierungsobsession zügellos auszuleben. Dank FitnessArmband und ständiger Weiterentwicklung der Extremsportarten bewegen sich mehr und mehr Menschen mittlerweile gefährlich nahe an der Grenzlinie zwischen ambitioniertem Freizeitsportler und Adrenalin-Junkie, was auch schon mal mit dem Tod enden kann. Einzelne Initiativen, die sich für ein besonnenes Sporteln mit Augenmaß einsetzen,29 wirken eher nur wie der Tropfen auf dem heißen Stein.

      Was als Ausgleich zur einseitigen Kopflastigkeit der Arbeit in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft gefördert und gepredigt wird, nutzen viele mittlerweile als weitere Leistungs- und Wettbewerbszone. Als Feld, auf dem die Jagd nach Überbietung nach Feierabend weitergeht. Dabei zahlt sich das bewusste und dosierte «Weniger» auch in dieser originärsten Wettbewerbsdomäne offensichtlich als bessere Erfolgsstrategie aus. Die Pause macht den Erfolg. Die Sportwissenschaft weiß mittlerweile, dass die Regenerationsfähigkeit für Unterschiede zwischen Spitzensportlern verantwortlich ist, weniger ein exzessives Training.30 Und auch bei längeren sportlichen Wettbewerben, wie zum Beispiel einem Marathonlauf, ist offensichtlich das Erfolgsgeheimnis, nicht zu viel zu wollen, sich eher zu mäßigen und zu bremsen und sich vor allem nicht von anderen pushen zu lassen.31

      ► Werbung: back-to-normal. Marketing und Werbung spielen vermutlich eine ganz maßgebliche Rolle, unseren Selbstoptimierungstrieb immer weiter anzustacheln. Ob in Zeitschriften, Fernsehen oder im Internet, Werbung versteht es auf ganz subtile Weise, den unlöschbaren Durst unseres Egos nach Vollkommenheit jeden Tag aufs Neue zu befeuern und uns zu animieren, unsere Grenzen grenzenlos zu verschieben. Umso erstaunlicher, dass sich auch hier eine Verschiebung von perfekt gestyltem Hochglanz zur lebendig unordentlichen Imperfektion abzuzeichnen scheint. Zurückhaltung statt Verblendungstaktik scheint also als Erfolgsstrategie auch im Marketing und der Werbung wieder im Kommen.

      Während wir früher mit Superlativen überzeugt werden sollten, hören wir heute auch schon mal Sätze wie: «Es geht nicht ums Gewinnen. Es geht nicht darum, der


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