Lasst uns um Europa kämpfen. Nini Tsiklauri
was wolle. Wenn wir so verbunden sind, bleiben wir auch verbunden. Dann können wir alles meistern. Von Migration bis Pandemien, von Wirtschaftskrisen bis Klimawandel.
Denn das ist heute wichtiger denn je.
Neben dem Covid-19-Virus haben wir zusehends auch mit einem anderen Virus zu kämpfen. Mit der illiberalen Demokratie, die sich von innen heraus verbreitet und die EU Schritt für Schritt zerstören möchte. Es drohen die Einschränkung der Bürgerrechte, die Errichtung einer Medienzensur, es wird an der Verfassung und Gewaltenteilung gerüttelt und im Internet gezielt desinformiert. Diese Gefahren lauern direkt vor unserer Nase.
Meine Vision ist einfach. Meine Vision ist ein europagroßer Menschenteppich, geknüpft aus einem reißfesten Material aus Verve und Willen, verknotet mit Verantwortung und Zuversicht. Immer wieder werden hier und da Stellen schütter, fortwährend muss man ihn irgendwo reparieren, aber alles in allem kriegt ihn niemand kaputt. Auf so einem Teppich möchte ich Europa stehen sehen.
Deshalb sind wir unentwegt am Knüpfen. Dauernd hängen irgendwo lose Enden herum, viele Fäden sind überhaupt nicht ins große Gefüge einzuweben, andere rutschen immer wieder weg, sind bocksteif, statt sich auch nur ein wenig zu biegen, um sich mit den anderen verbinden zu lassen. Stellenweise ist der Europa-Teppich schon recht nachhaltig verwoben, dazwischen bilden sich aber immer mehr hartnäckige Knäuel aus einem Material, das so gar nicht zum übrigen passt. Und manchmal sind wir auch müde und frustriert, weil noch so viel Arbeit vor uns liegt, und knüpfen halbherziger vor uns hin.
Aber das wird schon. Sagt die Naive mit ihrem unschuldigen Glauben an das Gute in den Europäern. Und warum auch nicht?
Nichts hat so sehr gezeigt, was eine Bewegung zu bewirken imstande ist wie Fridays for Future. Ein Netz aus der Kraft der Jugend, die man vorher nie ernst genommen hat, und die jetzt nicht mehr zu ignorieren ist. Mehr noch, mit der man rechnen muss. So eine Basis stelle ich mir vor. Die sicherstellt, dass nichts mehr von oben diktiert werden kann, was unten nicht angenommen wird.
Europa ist ein Gefühl.
Wenn Mut, Zusammenhalt, Vielfalt, Respekt, Zukunfts- und Freiheitsliebe an einem Ort zusammentreffen, entsteht es automatisch. Dann liegt es in der Luft, ihr könnt es fast greifen, das elektrisierende Europa-Feeling. Ich weiß es, ich habe das erlebt.
Wer ist sie denn, mag jetzt jemand denken. Wie kommt sie eigentlich dazu, sich so hervorzutun?
Ehrlich? Ich habe es mir nicht ausgesucht, das müsst ihr mir glauben. Ich werde gern als die Stimme der Zivilgesellschaft herumgereicht, aber das war kein Berufswunsch. Ich bin nicht als Kind eines morgens aufgewacht und habe zu meinen Eltern gesagt: Ich weiß jetzt, was ich werden will, wenn ich groß bin. Ich werde die Stimme der Zivilgesellschaft.
Ich bin keine Greta Thunberg, weder von innen noch von außen. Ich bin ein ganz normaler Mensch, wie so viele andere auch. Ich bin wie du. Nur meine Geschichte ist etwas anders, sie befähigt mich, meinen Job mit Herz zu machen.
Ich habe gesehen, was es heißt, wenn wir nicht in Frieden leben. Das ist es ja, was wir in unseren privilegierten, friedlichen Zeiten gar nicht realisieren. Krieg sieht man. Keinen Krieg sieht man nicht. Frieden ist so unsichtbar wie selbstverständlich, wenn er siebzig Jahre dauert.
Ich habe einen Lebenslauf, in den Europa eingeflochten ist. Ich bin in Georgien geboren und mit meinen Eltern nach Ungarn ausgewandert. In ein Land, das Georgien in Infrastruktur und Technik weit voraus war. Stetig fließendes Wasser oder eine stabile Stromversorgung waren in der Schule in Tiflis die Ausnahme. In Mitmenschlichkeit und Toleranz zeichnete sich Ungarn dagegen weniger aus. Die feindliche Einstellung gegenüber allem Fremden veranlasste meine Eltern, wieder nach Georgien zurückzukehren. Ein paar Jahre später ergab sich über ihr Studium die Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen. Da war ich zehn Jahre alt, und ich wurde zu einem ganz normalen europäischen Mädchen.
Dem dann ein paar gar nicht ganz normale Dinge passierten. Noch als Schülerin hatte ich Erfolg als Schauspielerin. Als Schauspielerin hatte ich die Gelegenheit, Angela Merkel zu treffen und sie zu bitten, sich beim NATO-Gipfel für einen Beitritt Georgiens auszusprechen. Als Urlauberin musste ich im Kaukasuskrieg unter Bombenbeschuss aus meinem eigenen Land fliehen. Und als Georgierin gab ich mir daraufhin das Versprechen, alles dafür zu tun, um etwas zum Positiven zu verändern, sofern ich das überlebe.
Und das tat ich.
Ich engagierte mich in Jugendparlamenten. Ich schrieb Artikel und nutzte meine Bekanntheit als Schauspielerin und Sängerin, um mich für Europa einzusetzen. Dann musste ich mich entscheiden, welche Rolle ich weiterhin spielen wollte. Die des Teenie-Idols oder die der Kämpferin für ein geeintes Europa. Ich übersiedelte nach Wien, um Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen zu studieren. Dann wurde Trump gewählt, Großbritannien stimmte haarscharf für den Brexit, und ich holte die Pulse-of-Europe-Bewegung nach Wien. Ich wurde zur Aktivistin.
Pulse of Europe ist keine Partei, keine Institution, keine Organisation, und damit nichts Offizielles, dem man gleich einmal misstrauen müsste. Wir sind eine Bewegung und haben niemanden, der uns etwas vorschreibt. Wir haben keine Posten, die wir verteidigen müssen, keine Wahlen, die wir gewinnen müssen. Wir sind bloß begeisterte Befürworter der Europäischen Union und besorgt, dass die vielen begeisterten Gegner die EU spalten und zerschlagen könnten. Im Zuge des Rechtsrucks, der durch Europa zuckte, keine unberechtigte Befürchtung.
Die Menschen in Europa nutzen das Potenzial nicht, das sie haben. Deshalb gibt es Pulse of Europe. Um die schweigende Mehrheit zum Reden zu bringen. Sich gegen das auszusprechen, was Europa schwächt.
Die Regierungschefs sind an der Verantwortung, sie sitzen an den Hebeln, aber sie wurden von den Menschen in ihren Ländern gewählt. Von uns, egal welcher Nationalität wir angehören. Wir können Druck an unseren Regierungen ausüben. Den Politikern auf die Finger klopfen. Wir müssen diese Möglichkeit nur nutzen.
In 22 europäischen Staaten gingen deshalb Europäerinnen und Europäer in 180 Städten auf die Straße. Gleichzeitig. Jeden Sonntag um zwei Uhr nachmittags, was damals noch kein Virus verhinderte. Ich wollte, dass auch Wien dazugehört. Als Rückhalt für die EU. Als Rückhalt für jeden von uns, weil wir alle es sind, die die EU ausmachen.
Da ist es wieder, das Gefühl, das ich meine.
Es umgab uns wie viele starke Arme. Wir waren in so vielen verschiedenen Städten weit über Europa verstreut, aber wir fühlten uns nah. Zusammengehörig. Wir fühlten uns eins miteinander.
Immer wieder werde ich gefragt, ob es nicht um mehr geht als um das Gefühl. Ob es nicht Fakten sind, derer wir uns mehr annehmen müssten. Mehr konkrete Themen, mehr aktuelle Probleme. Ob Fühlen wirklich genug sei, um Europa mit seinen vielen Sollbruchstellen und seiner ganzen Reformwürdigkeit aus dem Tief zu heben, in dem es steckt.
Ja. Sicher. Gefühl allein ist nicht die Lösung. Aber es ist das Gebiet, auf dem ich daheim bin. Das ich vermitteln kann. Für die konkreten, spezifischen Herausforderungen gibt es Expertinnen und Experten. Ich mache meine Arbeit an der harten Basis. Ich helfe mit, den Teppich zu knüpfen. Denn ohne ihn können auch die gescheitesten Expertinnen und Experten nichts ausrichten.
Ich fühle Europa. Ich atme Europa. Ich bin ein Teil von Europa. Ich habe eine EU-Staatsbürgerschaft. Ich bin privilegiert. Ich bin dankbar.
Andere vergessen oft, welches Privileg sie als Europäerinnen und Europäer haben. Ich erinnere sie gerne.
Auch wenn das nicht immer ein leichter Job war. Ich war Lampenfieber gewöhnt, aber es war richtige Angst, die ich ausstand, bevor ich auf der Straße wildfremde Menschen ansprach und ihnen das offene Mikrofon in die Hand drückte, damit sie für alle hörbar ihre Meinung über die EU sagen konnten. Positiv oder negativ. Ich war Kameras gewöhnt, aber ohne Text aus einem Drehbuch zu sprechen, war dann doch etwas anderes. Noch dazu live in einer politischen TV-Sendung, in der Experten, Intellektuelle oder Politiker zu Wort kamen.
Auf einmal war ich nicht nur Stimme, sondern auch Gesicht einer Überzeugung. Öffentlich für eine Sache einzutreten, erfordert Mut. Ich weiß genau, was ich da von anderen verlange. Sich hinzustellen und sagen, ihr könnt ruhig über uns lächeln, verdient