Mut zum Genuss. Marlies Gruber

Mut zum Genuss - Marlies Gruber


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Selbst wer schon gut unterwegs ist, kann immer noch ein we nig nachlegen, Neues entdecken, Neues erfahren. Es gibt also immer Luft nach oben.

      Dabei kann sich Genießen über zahlreiche Lebensbereiche erstrecken. Entscheidend dafür, ob wir etwas als genussvoll wahrnehmen, sind in erster Linie unsere grundlegende Haltung und Einstellung, unser Denken, unsere Erwartungen, auch unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung über unsere Sinne. Wie unterscheidet sich Genuss von Lust, von Gier, von Sucht? Viele Basics in dem Buch sind allgemein gehalten und lassen sich auf etliche Erfahrungswelten umlegen. Der Haupttenor liegt jedoch beim Essen und Trinken – aus zwei Gründen: Zum einen, weil das die Themen sind, mit denen ich mein Brot verdiene. Zum anderen bildet Kulinarik eine fantastische Ressource für das Genießen. Und das tagtäglich.

      Tauchen Sie ein in eine lukullische Welt!

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      EINLEITUNG ODER:

      WARUM MUTIG SEIN?

      Ich könnte kurz antworten: Weil viele Angst haben.

      Angst vor dem zu dick werden, vor Pestiziden, vor Zusatzstoffen, vor zu viel Technologie, vor Unverträglichkeiten, vor Krankheiten, vor Täuschung … Angst davor, etwas falsch zu machen, Grenzen zu überschreiten, sich gehen zu lassen. Dass grundsätzlich Angst mitschwingt, liegt in der Natur der Sache: Evolutionär geht es um die Urangst, vergiftet zu werden. Heute dagegen werden in vielen Schattierungen Ängste vor dem Essen geschürt. Auf Angst gründet auch ein verkrampfter, unentspannter Umgang. Dabei kann Essen und Trinken wie ein herrliches Panorama zu absoluten Höhenflügen verleiten. Man muss sich nur trauen. Jemand, der an Höhenangst leidet und dennoch über schmale Grate einen Berggipfel erreicht, wird mit Glücksgefühlen belohnt. Ängste zu überwinden macht frei. Wer sie verdrängt, verstärkt sie nur. Wer sie nicht kennt, vermeidet oder verleugnet, dem fehlt das Selbstvertrauen zum Mutigsein. Denn Mut gibt es nur im Bewusstsein der Angst.

      Mut zum Genuss ist deswegen gefordert, weil sich eine Verbots- und Verzichtskultur beginnt auszubreiten. Nicht mehr rauchen, Wein und Bier alkoholfrei trinken, fettarm essen. Sich Restriktionen unterzuordnen mag für manche der rechte Weg sein. Doch sich zu fügen bedeutet immer, einen Kompromiss einzugehen. Ein Kompromiss: wofür? Die Einen ha ben Angst vor Erkrankung, die Anderen bangen vor sozialer Ausgrenzung. Natürlich macht krank sein ebenso wenig froh, wie nicht dazuzugehören. Doch abgeschliffen, eingepasst, ordentlich und kontrolliert – fremdbestimmt zu leben, widerspricht gänzlich einem guten Leben. Uns von äußeren Begrenzungen zu lösen, Widerstände zu überwinden, kostet Kraft und ist mit Aufwand verbunden. Doch das macht innere Freiheit aus, selbstbestimmt zu entscheiden, was für einen gut ist und was glücklich macht. Mutig ist, Ängste nicht abzulehnen, sondern sie einzubeziehen. Sich nicht für das Eine oder das Andere zu entscheiden, sondern den richtigen Ausgleich zu finden.

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      DIE KUNST ZU GENIESSEN ODER:

      WOVON IST DIE REDE?

      Können wir noch genießen? Das ist eine höchstpersönliche Frage. Denn ob geistig, körperlich oder kulinarisch – genießen ist immer individuell. Für jeden bedeutet es etwas anderes und jeder braucht etwas anderes. Erlebt der eine Glücksgefühle, wenn er auf das Meer schaut und ein Glas Wein trinkt, ist für den Anderen ein zwei-Stunden-Lauf pure Freude oder für den nächsten stundenlanges Zeitunglesen oder nur für eine Minute die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren. Manche holen sich aus dem Alltag die Kleinigkeiten heraus und andere laufen an ihnen vorbei. Ist die Fähigkeit für das bewusste Wahrnehmen und Innehalten angeboren? Oder können wir sie trainieren? Müssen wir sie gar trainieren? Nur an den Genen kann es nicht liegen. Es gibt Kinder, die als kleine Feinspitze auf die Welt kommen und deren Geschwister eher nach dem Motto »Hauptsache von überall viel« leben. Die Forschung ist sich noch nicht ganz im Klaren, ob und welche Prägung darüber entscheidet. Dagegen sorgt das Savoir-vivre eines Landes jedenfalls für eine entsprechende Grundtönung.

      Savoir-vivre, wörtlich, das »Verstehen zu leben«, wird in Frankreich zwar nur für »gute Umgangsformen« verwendet, im Deutschen ist es die Lebenskunst. Und die beschäftigte schon in der Antike die großen Philosophen, galt damals doch die Philosophie als der Ratgeber für das alltägliche Leben. Sokrates setzte die Philosophie gar mit der Lebenskunst (ars vivendi) gleich, sein Schüler Platon bezeichnete sie als die»Fürsorge für die Seele«. Marc Aurel (121-180) sammelte in den »Selbstbetrachtungen« seine Reflexionen zu einem guten Leben. Auch Michel de Montaigne schrieb im 16. Jahrhundert zur Lebenskunst. Geboren in der Trüffel-Hochburg Perigord, als Urenkel von Ramon Felipe Eyquem, war ihm das wohl in die Wiege gelegt worden. (Der Urgroßvater war zuerst als Wein-, Fisch- und Indigohändler in Bordeaux reich geworden und erwarb schließlich das Château d’Yquem, mittlerweile eines der berühmtesten Weingüter weltweit.)

      Über die Jahrhunderte war die Frage danach, wie wir gut leben sollen, eng mit traditionellen Werten verknüpft – Fleiß, Tugend, Askese. Nur Spaß zu haben ist zu wenig. Heute sagt der Wirtschaftsprofessor und Glücksforscher Matthias Bindwanger in einem Interview mit dem UBS-Magazin: »Wir beschäftigen uns in unserer Gesellschaft intensiv damit, wie wir Geld verdienen können. Aber wir lernen sehr wenig darüber, wie wir gut leben und unser Geld intelligent ausgeben können. Der Verlust an Savoir-vivre ist teilweise der Preis für unseren Wohlstand. Wir sind völlig verplant durch unseren Lebensstil und dadurch oft nicht mehr in der Lage, spontan zu handeln«. Ganz grundlegend lässt sich also die Frage stellen, wie wir mit der Fülle an Möglichkeiten und an Materiellem umgehen, und welche Filter gewinnbringend sein können. Einige Menschen können durch das Verfeinern ihrer Sinne bewusst Glücksmomente im Alltag erleben und nehmen das als eigene Ressource wahr, mit der sie ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität steigern können. Das muss nicht einmal lange dauern: Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts market im August 2014 reichen für die Mehrheit der Befragten (62 %) für ein genussvolles Erlebnis einige Minuten aus, wenn diese wirklich intensiv sind (vgl. Infografik). Aufgrund der eigenen Biographie oder Erkrankungen wie Depressionen tun sich andere durchaus schwer. Genießen können fällt nicht allen in den Schoß – aber es ist erlernbar. Wer gedankenverloren und wenig achtsam durch den Alltag geht oder seine Zeit komplett verplant, ohne Zeitpolster, um für sich selbst Platz einzuräumen, muss wahrscheinlich intensiver üben. Trainieren müssen aber auch die Profis – ähnlich wie im Spitzensport. Auch sie können immer wieder Neues erfahren und die Intensität steigern.

      »Genuss ist die Handlung in der Gegenwart, die Hoffnung für die Zukunft und die Erinnerung an vergangene Dinge.«

      -Aristoteles

      Orientiert man sich am Beispiel Essen, so treffen all diese drei Aspekte zu. In der Gegenwart: Die sensorische Wahrnehmung von gut schmeckenden Speisen macht erwiesenermaßen Menschen ruhiger, entspannter und zufriedener. Für die Zukunft: Sich auf kulinarische Ereignisse zu freuen, ist keine Seltenheit. Manchmal geht es darum, satt zu werden, dann wieder darum, einen bestimmten Gusto zu stillen oder weniger ums Essen und mehr um die Gesellschaft. Egal wie, Vorfreude und Belohnung sind eng aneinander gekoppelt. Ihre Mechanismen steuern das Verhalten zu Zielen, die das Überleben sichern, wie Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung. Zur Belohnung gibt es eine Ausschüttung: jene von Wohlfühlhormonen. Bei Menschen ist der Belohnungskreislauf komplex und steht mit mehreren anderen Hirnregionen in Zusammenhang, die mit Gefühlserlebnissen verbunden sind, wie auch beim Essen. Die präzisen Pfade der für Genuss zuständigen Substanzen im Zentralnervensystem sind noch nicht vollständig erforscht. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch den Nervenzellen des Zentralnervensystems zu, die dem ventralen Tegmentum entstammen. Leiten diese Zellen einen Impuls weiter, wird der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt. Und Dopamin ist schließlich der Key Player in der Genuss- und Belohnungsphysiologie.

      Die Erinnerung: Gerade ans Essen in der Kindheit oder bei speziellen Anlässen kann man sich oft ein Leben lang erinnern. Omas samstägliche Erdäpfelsuppe oder ihren Apfelstrudel


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