Mut zum Genuss. Marlies Gruber

Mut zum Genuss - Marlies Gruber


Скачать книгу
Geborgenheit. Es gibt auch Menschen, die wiederkehrende Feste nur durchs Essen unterscheiden – der Geburtstag, an dem es Tapas gab, Curry, Fondue oder eine Wildsau … Manche merken sich vielleicht nicht den Namen des Lokals, wissen aber genau über das mehrgängige Menü zu berichten. Ebenso leben Urlaubserinnerungen häufig von »Ess-Kapaden« und der Atmosphäre rundherum. Neben dem aktuellen Erleben und der Vorfreude gehören also angenehme Erinnerungen zu den wichtigsten Erfahrungen von Freude und Entspannung.

      Der gängigen Definition nach ist Genuss eine positive Sinnesempfindung, die mit körperlichem und/oder geistigem Wohlbefinden verbunden ist. Die Genussfelder lassen sich demnach in kulinarische, in kulturelle mit etwa Theater, Musik, Literatur und in körperliche mit Sexualität, Sport oder Massagen einteilen. Was jemand als genussvoll wahrnimmt, ist äußerst subjektiv und von Mensch zu Mensch verschieden. Genussfähigkeit bildet jedenfalls die Voraussetzung dafür. Der Schriftsteller François de La Rochefoucauld hat dieses Faktum auf die Kulinarik bezogen kurz gefasst: »Essen ist ein Bedürfnis, Genießen ist eine Kunst.« Schließlich muss man eine Kunst erst erlernen – die Bildhauerei oder das Musizieren ebenso wie das Kochen, Genießen, Lieben oder Leben. Immer sind Neugierde, Leidenschaft, Interesse, ein intensives Beobachten und Erleben, Selbsterfahrung, Kontemplation und Reflexion notwendig, um zum Aficionado aufzusteigen. Denn selbstverständlich ist das Genießen ganz und gar nicht.

      Natürlich ist Genuss auch alleine möglich, vom Linguistischen her deutet es aber eine Gemeinschaftskomponente an. Genießen und Genosse hängen ebenso zusammen. Beides beruht dem etymologischen Wörterbuch Kluge zufolge auf dem nahezu gleichen germanischen Stamm »neuta/nauta«. Das bedeutet ursprünglich »Nützen oder Vorteil haben« und in der Gemeinschaftsbildung »der das Vieh gemeinsam hat«. Zudem weist die Vorsilbe »ge-« ursprünglich bei vielen Worten auf Zusammensein hin. Dass während gemeinsamer Mahlzeiten zwei zu Kumpel (compain, compagno, von lat. panis, Brot) werden können, liegt aber nicht nur daran: Wir essen und reden mit dem Mund. Gemeinsam Essen führt zum Austausch, schafft Nähe und Zusammenhalt, fördert emotionale Bindungen.

      Genuss ist nicht dasselbe wie Lust. Lust kann als ein kurzfristiger und mitunter auch kurzsichtiger Konsum gesehen werden, der spontan geweckte Bedürfnisse befriedigt. Beim Genuss steuert der Kopf mit, bei der Lust geht es um das Animalische, das Instinktive. Bei der Lust hat die Vernunft Pause. Lustvolles kennt keine Grenzen. Mit Lust zu essen bedeutet, den Appetit zu stillen, zu verschlingen, sich fallen zu lassen. Genießen hat dagegen mit Selbststeuerung, Maßhalten, Autonomie und Zeit zu tun. Genießen geht mit bewusster Wahrnehmung und bewusster Gestaltung einher. Genuss unterscheidet sich daher auch eklatant von Gier und Sucht.

      Menschen sind Gewohnheitstiere: So gewöhnen wir uns auch an, das Gute und die Ansprüche an die Produkte und Zeiten, mit denen wir uns verwöhnen, zu steigern. Was zuerst als Genuss wahrgenommen wird, geht dann in puren Konsum über. Das Konzept dahinter nennt sich die hedonistische Tretmühle. Es ist also wie ein Genuss-Hamsterrad: Die genussvollen Eindrücke Überwerfen sich, man nimmt sie in ihren Details nicht mehr wahr, schätzt sie weniger, braucht immer höhere Dosen, um für Genusserlebnisse empfänglich zu sein. Man wird ihrer fast überdrüssig. Und tatsächlich kann es schwierig sein, die Kette an gustatorischen, oder anderen, Höhepunkten zu unterbrechen. Manche meinen gar, süchtig zu sein. Doch dazu später. Bleiben wir bei der Gier: Wir wollen immer mehr und mehr … immer aufregender, spannender, ekstatischer. Der Duden beschreibt sie als ein »auf Genuss und Befriedigung, Besitz und Erfüllung von Wünschen gerichtetes, heftiges, maßloses Verlangen". Kritisch daran ist das »Zuviel des Guten«.

      Zum rechten Umgang mit Genüsslichem lässt sich eine Reihe an Aphorismen der vergangenen zweitausend Jahre sammeln. So meinte der griechische Schriftsteller Plutarch (~45 bis ~125) etwa: »Alle Vergnügungen auf alle Weise genießen zu wollen, ist unvernünftig; alle ganz zu vermeiden, gefühllos.« Christoph Martin Wieland, deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber (1733-1813), konstatierte wiederum »Der allein ist weise, der im Sparen zu genießen, im Genuss zu sparen weiß.« Dass es auf zumindest zeitweise Askese ankommt, fasste auch David Friedrich Strauß, deutscher Schriftsteller, Philosoph und Theologe, 1808-1874, zusammen: »Wer weiß zu leben? Wer zu leiden weiß. Wer zu genießen? Wer zu meiden weiß.« Und die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) wies auf das rechte Maß hin: »Fortwährendem Entbehren folgt Stumpfheit ebenso gewiss wie übermäßigem Genuss.«

      Das einzige Mittel gegen Gier und Überdruss ist die bewusste Auszeit von entsprechenden Stimuli: eine Phase der Askese. Askese stammt aus dem Griechischen und ist vom Zeitwort askeín (ἀσκεῖν) abgeleitet, das soviel wie ›üben‹ bedeutet. Seit der Antike wird damit eine Selbstschulung verstanden, um bestimmte Tugenden oder Fähigkeiten, Selbstkontrolle und/ oder einen gefestigten Charakter zu erlangen.

      Askese nimmt in der Überflussgesellschaft eine wesentliche Funktion ein und wurde gar als pädagogisches Prinzip formuliert. Genuss und Askese wirken wechselseitig aufeinander: Ohne Zeiten der Abstinenz ist kein Genuss möglich, ohne Zeiten des Genießens keine Enthaltsamkeit.

      Dabei haben sich mehrere Aspekte der Askese als bedeutsam herausgestellt:

      Der Bedürfnisaufschub: Ein Bedürfnis muss nicht unmittelbar befriedigt werden.

      Die Anstrengung: Die Enthaltsamkeit ist mit einer gewissen Überwindung verbunden. Wer an einen asketischen Lebensstil gewöhnt ist, erfährt keinen Genussverzicht.

      Die Entscheidung: Phasen der Enthaltsamkeit werden bewusst entschieden, also auch bewusst begonnen und bewusst beendet.

      Die Autonomie: Askese wird einem nicht von außen oktroyiert – sie ist ein Zeichen autonomer Lebensführung und resultiert aus einem selbstfürsorglichen Umgang.

      Menschen verzichten phasenweise auf unterschiedliche Dinge: Die Nahrungskarenz beim Fasten zählt sicher zu den häufigsten Varianten. Auch einzelne Genussmittel werden, vor allem in der Fastenzeit, häufig ausgespart, wie Fleisch, Alkohol oder Süßes. Auch sexuelle Enthaltsamkeit oder Kommunikationsverzicht (Schweigegebot) erfahren einen Aufschwung.

      Zwanghaftes Asketentum kann aber auch krank machen. Das zeigen Befunde von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Mehr als andere neigen solche Menschen dazu, alle Dinge übernehmen zu wollen, ständig aktiv zu sein, Krankheitssymptome kleinzureden und sich nichts zu gönnen. Ob letzteres daran liegt, dass sie es nicht wollen oder ob sie es nicht können, ist noch nicht erforscht.

      Menschen, die langfristig freiwillig auf etwas verzichten, werten herkömmliche Werte um. »Sie negieren das, was für uns der Inbegriff der Lebensqualität geworden ist, also Wohlstand, Komfort, Sicherheit, mein Haus, mein Auto, mein Boot«, sagt der Theologe und Buchautor Hermann Detering. Asketen orientieren ihr Leben jenseits des Konsums und finden Erfüllung und Sinn abseits des Mainstreams. Asketen sind durchwegs hart zu sich selbst, entziehen sich aber auch dem gesellschaftlichen Spiel von Macht und Einfluss. In früheren Zeiten wurde Askese meist mit religiöser Motivation und Transzendenz begründet. Heute können, je nach eigener Sichtweise, auch jene als Asketen gelten, die grundsätzlich soweit wie möglich auf Konsum verzichten, vegan leben, sich nur von Lebensmittelabfällen ernähren oder einen ökologischen Lebensstil pflegen …

      Was lässt sich von Hardcore-Asketen vergangener Tage wie Wanderasketen oder Bettelmönchen abschauen? »Man kann lernen, dass der Weg zur inneren Freiheit immer über den Verzicht geht. Verzicht auf übermäßiges Essen und übermäßigen Alkoholgenuss und alles, was uns abhängig und unfrei gemacht hat, ist ein guter Anfang«, so der Theologe Detering. Die kleine Schwester der Askese ist übrigens die Genügsamkeit: Es muss also nicht immer völliger Verzicht sein – wissen, wann es genug ist, genügt auch.

      Wie wichtig zeitweiliger Verzicht für das Genießen ist, veranschaulicht auch die Sage »Speck und Erbsen« aus dem Jahr 1926:

      »Der


Скачать книгу