Mut zum Genuss. Marlies Gruber

Mut zum Genuss - Marlies Gruber


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Er ging viele Stunden lang bis über Mittag und wurde bei der Anstrengung gewahr, wie der Hunger tut. Der ist bei so vornehmen Leuten ein höchst seltener Gast, und der Kurfürst hat ihn wohl zum erstenmal kennengelernt. Doch mußte er noch bergauf, bergab in dem großen Walde gehen, ehe er an ein Haus kam. Da sank er vor Ermüdung zusammen und bat um Essen. Die Bäuerin hatte Speck und Erbsen gekocht und setzte das dem Kurfürsten vor in der Meinung, er sei ein fremder Jägersmann, wie er angab. Das Speck- und Erbsengericht und das Haferbrot der Bäuerin aber schmeckten ihm so wohl, wie ihm noch nie eine Speise gemundet hatte, und als er nach Düsseldorf in sein Schloß zurückgekehrt war und ihm die leckeren Speisen der Fürstentafel nicht schmecken wollten, da befahl er, Speck und Erbsen zu kochen; denn das sei, sagte er, das köstlichste Essen von der Welt. Aber wie es der Küchenmeister auch anrichten wollte, der Kurfürst sagte, im Königsforst habe er das besser gegessen.

      Schließlich mußte ein Eilbote hinausreiten zum Königsforst und die Bäuerin bestellen, die von Bensberg im landesherrlichen Wagen nach Düsseldorf abgeholt wurde, damit sie die Lieblingskost dem Kurfürsten so schmackhaft zubereiten sollte, wie er sie in ihrem Hause genossen hatte; auch mußte sie auf seinen Befehl ein Bauernbrot mitbringen. Aber was die gute Frau ihm kochte, das wollte ihm ebensowenig schmecken wie das Haferbrot, das sie mitgebracht hatte; denn die Hauptwürze, der Hunger, fehlte ihm, der bei der Ermüdung im Königsforste die Speisen so gewürzt hatte. Da wurde er denn klug daraus und pries die Arbeiter glücklich, daß ihnen bei naturgemäßer Bewegung in ihrem Arbeitsleben jede Mahlzeit munde.

      Davon hatte man im Bergischen ein Sprüchlein, das lautet: Wer sich durch Arbeit nicht tut schrecken, dem wird’s wie dem Jan Willem schmecken.

      Auch gelten seit jenem Begebnis Speck und Erbsen im Bergischen als Heimatkost und Leibgericht.«

      - Zuccalmaglio II, 34.

      Frei von Begierde zu sein heißt also, vollkommen oder ganz zu sein. Es fehlt einem nichts. Umgekehrt ist die Triebfeder der Gier das Gefühl des Mangels. Und ein Mangel ist in Konsumgesellschaften schnell ausgemacht. Tatsächliche Bedürfnisse rücken dabei oftmals ins Hintertreffen und aufkeimende Unzufriedenheit wird überlagert mit dem nächsten Kompensationsakt – dem nächsten Einkauf, dem nächsten Bissen.

      Der Gier keine Angriffsfläche zu bieten, bedeutet in erster Linie: anzuerkennen, was da ist. Wer sich selbst Antworten darauf gibt, was einem wirklich fehlt, wird innerlich freier. Wer seine Leere füllt, hat es nicht nötig, das Buffet zu stürmen, mit überladenen Tellern zum Tisch zurückzukehren, sich zu überfressen oder erst recht die Hälfte stehen zu lassen. Auch wenn es noch so gut schmeckt. Nie genug haben kann dagegen der, der seine Bedürfnisse nicht kennt. Die Gier auszutricksen hat auch mit Würde zu tun: Dankbarkeit, Bescheidenheit und Demut mögen etwas aus der Mode gekommen sein, bilden aber immer noch Eckpfeiler gelassener Existenzen. Damit lässt sich aus der Fülle schöpfen, nicht aus dem Mangel.

      Mehr in dem zu finden, was man hat, funktioniert über eine geschärfte Wahrnehmung. Man braucht nicht mehr, wenn die Sinne auf Maximum geschaltet sind: Bewusst die Meeresbrise spüren, den Sand von den Füßen reiben, das Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen, den Wein, das Wasser oder den Tee schmecken, eine Umarmung auskosten, jeden Atemzug wahrnehmen. Finetuning der Sinne erfüllt und führt zum Genuss. Die Gier zeigt sich dann im Streben nach einer immer feineren und bewussteren Wahrnehmung. Im Herauskitzeln der Details, im Erkenntnisgewinn. In der Distinktion. Wie wirken welche Eindrücke auf uns? Was macht das mit mir? Die Reflexion und das Wachhalten der Erinnerung steigern die Erfahrung und sättigen mehr als Materielles.

      Wie Zufriedenheit und Glück sogar mit einem steten Verlust von Hab und Gut einhergehen kann, erzählt das Märchen von »Hans im Glück«: Für sieben Jahre Arbeit erhält Hans einen kopfgroßen Klumpen Gold. Diesen tauscht er gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, und die Gans gibt er für einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein her. Er glaubt, jeweils richtig zu handeln, da man ihm sagt, ein gutes Geschäft zu machen. Von Stück zu Stück hat er auf seinem Heimweg scheinbar weniger Schwierigkeiten. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war. (Fassung der Brüder Grimm)

      Genuss wird aber nicht nur mit Gier in Verbindung gebracht, sondern auch mit Sucht. Physiologisch lassen sich zwei Mechanismen zu Genussgefühlen feststellen: Der eine ist jener mittels Substanzen wie Alkohol, Kokain oder Nikotin. Die entsprechenden Moleküle kommen über den Blutkreislauf ins Gehirn und wirken dort direkt auf das Dopaminsystem. Es folgt eine verstärkte Ausschüttung von Dopamin und anderen Katecholaminen. Der andere Mechanismus führt über Sinneswahrnehmungen wie Riechen, Sehen, Fühlen …, die an Rezeptoren Impulse erzeugen, die wiederum über Acetylcholin vermehrt zur Dopaminausschüttung führen. Das dopaminerge System sorgt dafür, dass auf die im Gehirn erzeugten Erregungen Handlungen folgen.

      Nutzt man Genussmittel nur ihrer Wirkung wegen und meint man, die Glücksgefühle bloß noch dadurch zu erzielen, bewegt man sich eigentlich schon abseits des Genusses. Wenn also der Kaffee nur noch zum Aufputschen dient, der Wein bloß mehr entspannt und berauscht, die Zigarette nicht schmeckt, nur anregt oder beruhigt. Wenn also Genussmittel nicht für den Genuss gebraucht werden, sondern auf Dauer unbewältigbare oder Alltags-Situationen, Stress und Ärger kompensieren sollen. Wenn das Glas Bier belohnt, die Schokolade den Frust verdauen soll, das neue Kleid die innere Leere füllt. Wenn man ausweicht.

      Können aber auch einzelne Nährstoffe unabhängig davon süchtig machen? Zucker ist immer wieder in Diskussion. Suchtexperten sehen die Basis dafür nicht gegeben. Denn das Entscheidende an einem Suchtmittel ist, dass es unglaublich gut und unmittelbar wirken muss, dass es uns massiv psychisch verändert, dass es also psychotrop wirkt. Wie eben Opiate, Kokain, Tranquilizer oder Alkohol. Mit Zucker lässt sich eine derartige psychotrope Wirkung nicht erreichen. Schließlich ist Sucht immer etwas Desaströses, etwas, das einem irgendwann völlig entgleitet. Da ist man bei Zucker weit davon entfernt. Selbstverständlich gibt es auch bei Zucker Menschen mit übermäßigem Konsum. Doch nicht jeder übermäßige Konsum führt zu einer Abhängigkeit. Für das Abhängigkeitssyndrom gibt es zudem, gemäß der sogenannten ICD-10 Systematik (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), eine klare Definition. Danach müssen mindestens drei von sechs Kriterien über mehrere Wochen zutreffen, bevor man von einer Sucht spricht (s. unten).

      Kriterien für ein Abhängigkeitssyndrom:

      1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren (Craving)

      2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums (Kontrollverlust)

      3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums (Körperliche Abhängigkeit)

      4. Nachweis einer Substanztoleranz (Toleranzentwicklung)

      5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen (Psychische Abhängigkeit I)

      6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (Psychische Abhängigkeit II)

      Körpereigene Drogen durch Fett

      Bei Fett ist der Mechanismus im Körper genauer geklärt: Es setzt körpereigene Drogen frei – nämlich dann, wenn Fett auf der Zunge schmilzt. Diese sogenannten Endocannobinoide entstehen im vorderen Abschnitt des Darms und steigern den Appetit auf das Weiteressen. Das bedeutet, dass es zu einer Spirale kommt: Wieder landet Fett auf der Zunge und wieder werden Endocannabinoide freigesetzt. Oft ist es daher nicht leicht, mit dem Essen von fetten Lebensmitteln oder Speisen aufzuhören. Doch nicht alle Menschen reagieren


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