Der Topophilia-Effekt. Roberta Rio

Der Topophilia-Effekt - Roberta Rio


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Nur der oberste Priester, genannt Haruspex, durfte sie durchführen. Je nach Beschaffenheit der Leber von unterschiedlichen Opfertieren, erstellte er Prognosen für die Zukunft. Dabei teilte er die Leber in Regionen auf, die Bezeichnungen, wie Berg, Fluss, Straße, Palast, Ohr, Bein, Finger, Zahn, Vulva, Hoden und so weiter bekamen. Ungewöhnliche Löcher in der Leber galten als böses Omen.

      Doch die Etrusker nutzten die Leberschau auch bei ihrer Besiedelungs-Strategie, und zwar, um die gute oder schlechte Wirkung von Orten auf Menschen zu klären. Bevor sie eine neue Stadt gründeten oder ein Gebäude errichteten, brachten sie ihre Schafe zu dem betreffenden Ort und ließen sie dort eine Zeit lang weiden. Manche Quellen behaupten, das dauerte ein Jahr lang. Andere meinen, der Zeitraum sei wesentlich kürzer gewesen, im Bereich von nur 14 Tagen.

      Nachdem nun die Schafe dort für einen bestimmten Zeitraum geweidet hatten, schlachteten sie eines der Tiere und untersuchten seine Leber. War sie in schlechtem Zustand, töteten sie ein weiteres Schaf, um herauszufinden, ob sie nur zufällig ein krankes Tier erwischt hatten. Wenn auch die Leber dieses Tieres angeschlagen war, hieß das für sie, dass der Ort keine gute Energie hatte und sie verließen ihn.

      Alten Berichten zufolge nutzten übrigens auch viel spätere Kulturen Tiere bei ihrer Besiedelungsstrategie. So wie vor mehr als 2000 Jahren die Etrusker ihre Leberschau abhielten, um die Qualität eines Ortes auszukundschaften, trieben Bauern Jahrhunderte später und bis in die Neuzeit hinein ihre Schweine auf ein Grundstück, das sie neu zu bebauen gedachten. Versammelten sich die Tiere an einem bestimmten Punkt, so deuteten die Menschen dies folgendermaßen: Hier können wir das Haus, den Stall etc. errichten, hier ist ein unbelasteter Platz.

      Schon als ich zum ersten Mal vom Brauch der Etrusker las, fragte ich mich, wie heute die Luftbilder besiedelter Landschaften aussehen würden, wären wir bei der Bewertung von Orten den von den Etruskern angelegten Maßstäben treu geblieben. Wenn ich lieblos zusammengefügte Gebäudekonglomerate sehe, Städte, die einzig Sachzwängen, wie Verkehrsanbindungen folgend über ihre Ränder hinauswucherten oder zusammengewürfelte Einkaufs- und Fachmarktzentren mit billigen Wohntürmen dazwischen, fragte ich mich, was die Etrusker wohl dazu gesagt hätten. Und wie viele Gebäude nicht dort stehen würden, wo sie stehen, hätten sie mitreden können. Ich fragte mich auch, wie viele Menschen dann vielleicht gesünder und glücklicher wären, und ob es am Ende so viele wären, dass staatliche Gesundheitsbudgets kleiner sein könnten und die gesellschaftliche Grundstimmung eine entschieden bessere wäre.

      Die Etrusker hatten das von ihnen angewandte Wissen über die Wirkung von Orten übrigens nicht selbst entwickelt, sondern ihrerseits von den Kulturen vor ihnen, wahrscheinlich von den Babyloniern, übernommen. Aus heutiger Sicht ist es dabei ein Glücksfall, dass die Etrusker später im römischen Reich aufgingen. Andernfalls wäre von diesem Wissen und allem anderen, das sie ausmachte, viel weniger überliefert. Denn bis heute entzieht sich das wenige, das von den Schriften der Etrusker erhalten ist, der Lektüre. Die Schriften haben zwar teilweise Ähnlichkeit zum altgriechischen Alphabet, doch konnte sie bisher über winzige Fragmente hinaus niemand entziffern. Und das in einer Zeit, da Maschinen jeden noch so komplizierten Code binnen kurzem knacken können. Einer der bekanntesten Etruskologen war der römische Kaiser Claudius, der von 10 v. Chr. bis 54 n. Chr. lebte. Er verfasste ein zwanzigbändiges Werk über die Etrusker, deren Kultur und Geschichte er bewunderte. Doch leider ist es bis auf wenige Zitate und Auszüge nicht erhalten.

      Insbesondere ihre Hohlwege bleiben rätselhaft, bei deren Errichtung sie ebenfalls mit der Wirkung von Orten gearbeitet haben dürften. Es handelt sich dabei um bis zu vier Meter breite und bis zu zwanzig Meter hohe Felsschluchten mit steilen Seitenwänden, in den Boden gegraben, nahe den Ortschaften Sorano, Sovana und Pitigliano im Süden der Toskana. Doch zu welchem Zweck? Keine der drei darüber herrschenden Theorien ist wirklich befriedigend.

      Eine davon besagt, dass die Hohlwege Teil eines Systems zur Trockenlegung von Feldern waren. Allerdings: Kleine Abflusskanäle hätten denselben Effekt erzielt. Wozu also so viel Aufwand betreiben? Das wäre alles andere als pragmatisch gewesen. Und Pragmatismus ist etwas, worauf unsere Ahnen nachweislich setzten.

      Die zweite Theorie besagt, dass die Hohlwege ursprünglich gar nicht so tief waren, sondern erst durch das ständige Begehen entstanden. Alte Menschen vor Ort wissen allerdings, dass sich seit ihrer Jugend nichts an der Tiefe dieser Wege verändert hat, obwohl immer Menschen dort gegangen sind. Warum sollte das zur Zeit der Etrusker anders gewesen sein?

      Die dritte Theorie lautet: Die Hohlwege waren schlichtweg Verbindungs- und Transportrouten zwischen Orten. Aber: Sie laufen oft neben normalen Straßen nebeneinander her. Außerdem enden sie irgendwo. Einfach im Nichts.

      Fest steht so viel: Diese Hohlwege verfügen über ein spezielles magnetisches Feld. Magnetische Felder, so die Vermutung, sind in der Lage, körperliche Prozesse zu beeinflussen und zu verändern. Demnach könnten sie auch Heilungen bewirken. Eine wissenschaftlich fundierte vierte Theorie über den Sinn der Hohlwege lässt sich daraus noch nicht entwickeln. Jedoch lässt sich historisch belegen, dass unsere Ahnen mit derartigen Kräften gearbeitet haben, meist wohl unbewusst, ohne die ihnen zugrunde liegenden physikalischen und chemischen Zusammenhänge zu kennen.

      Erkannten sie an bestimmten Orten, dass da etwas ist, das wirkt, das Einfluss auf sie ausübt, so mieden sie diese Plätze. Oder sie machten sie für ihre Zwecke nutzbar. Wissenschaftlich einzuordnen verstanden die Etrusker dies sicher nicht. Doch das dürfte ihnen ziemlich egal gewesen sein. Der Zwang zur alleinigen Deutungshoheit der Wissenschaft über die Welt ist menschheitsgeschichtlich betrachtet ein blutjunges Phänomen.

      Das Geisterhaus

      Viele meiner Auftraggeber wollen möglichst genau wissen, wie das mit der Wirkung der Orte ist, wie sie entsteht, wenn sie nicht auf Ursachen wie Bodenstrahlungen zurückzuführen ist. Dann geht es manchmal um die Henne-Ei-Frage: Prägt ein Ort von Anfang an die Menschen, die ihn benutzen? Entstehen also die historischen Muster, die ich entdecke, allein aus ihm heraus? Oder prägen zuerst Menschen mit ihrem Verhalten den Ort und er gibt diese Prägungen an die nächsten Generationen weiter?

      Mit einer historischen Expertise kann ich diesbezüglich nicht aufwarten. Was ich kann, ist subjektiv auf Basis meiner Erfahrung und meiner Intuition antworten. Ich glaube, dass es eine ständige Wechselwirkung gibt, einen ständigen Austausch von Energien zwischen uns Menschen und den Orten, die wir benützen.

      Warum besuchen wir so gerne die Ateliers großer Künstler, auch wenn sie längst verstorben sind? Hat die Magie dieser Orte die Künstler hervorgebracht, oder haben die Künstler mit ihrer Magie diese Orte geprägt? Ich denke, dass es beides ist. Wenn ich ein Bild sehe oder ein literarisches Werk lese, interessiere ich mich immer dafür, wo der Künstler oder die Künstlerin daran gearbeitet hat. Ich finde immer Manifestationen des Ortes im Werk, ganz vordergründige, in Form von Darstellungen und Beschreibungen, aber auch subjektive, die etwas mit Atmosphäre zu tun haben.

      Andererseits verstehe ich auch, warum Menschen sich an Orten inspiriert fühlen, an denen Großes geschaffen wurde, und dass sie dort an der dabei frei gewordenen Energie teilzuhaben glauben. Als hätte dieses Große den Ort mit etwas aufgeladen, von dem sie etwas für sich mitnehmen können.

      Ich will versuchen, das anhand eines Hauses an einem Waldrand zu erklären. Es steht mitten in der Natur, ohne direkte Nachbarschaft. Wer sich dort aufhält, kann ungestört die Ruhe genießen, nur ab und zu kommen Wanderer vorbei. Das Haus hat einen Keller, ein Erdgeschoss, ein Stockwerk und eine weitläufige Terrasse, von wo der Blick auf den angrenzenden Wald fällt.

      Der Besitzer kontaktierte mich, weil er das Haus vermieten wollte, aber niemanden fand, der dort wohnen wollte. Er hatte keine Erklärung dafür. Immerhin war das Gebäude in ausgezeichnetem Zustand und die Umgebung konnte schöner kaum sein. Mit diesem Wissen machte ich mich an die Recherche.

      Die Geschichte des Hauses war relativ jung, da es erst Anfang der 1940er-Jahre errichtet worden war. Ein verliebtes und frisch verheiratetes Paar wollte sich dort ein glückliches gemeinsames Leben aufbauen. Der Mann war Tischler, die Frau absolvierte in der Zeit, als sie eine gemeinsame Bleibe suchten, eine Ausbildung zum Bürofräulein, wie das damals noch hieß.


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