Der Topophilia-Effekt. Roberta Rio
werden und ausreichend Platz bieten, für sie selbst und für die Kinder, die sie haben wollten. Das erste war schon unterwegs.
Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Der Mann wurde einberufen und musste seine schwangere Frau allein lassen. »Kümmere dich um das Haus«, sagte er zum Abschied und strich ihr durch die rotblonden Haare. »Wenn ich wieder zurück bin, genießen wir jeden einzelnen Tag in unserem schönen, neuen Eigenheim. Versprichst du mir das?«
»Ja, das verspreche ich dir«, beteuerte sie unter Tränen. »Pass gut auf dich auf! Und komm so schnell wie möglich wieder nach Hause.«
So oder so ähnlich muss der Abschied zwischen den beiden wohl verlaufen sein, zumindest wiesen die Aufzeichnungen und Erzählungen, die von der Frau überliefert waren, darauf hin. Vor allem lagen mir Briefe vor, die sie ihrem Mann und dem Vater ihres noch ungeborenen Kindes schrieb. Sie fingen immer mit »Mein süßer, tapferer Ehemann!« an.
In der Folge erzählte sie, wie sie mit dem Hausbau vorankam. Sie schilderte bis ins kleinste Detail, wie die Küche aussah und das Badezimmer. »Für das Baby ist jetzt alles vorbereitet«, schrieb sie einmal. »Ich habe weiße Gardinen genäht und eine Bordüre mit Blumenmuster als Wandschmuck gewählt. Das Gitterbettchen steht auch schon bereit. Ich freue mich schon so sehr darauf, wenn das Kind endlich da ist. Noch ein paar Wochen, dann ist es so weit. Dann darf ich unseren Schatz zum ersten Mal in den Armen halten. Ich hoffe, die Geburt verläuft gut und ohne Probleme. Ich wünschte, du wärst hier. Ich werde unbeschreiblich glücklich sein, wenn du wieder bei uns bist. Ich hoffe, dir geht es gut und du kehrst bald zu uns zurück. Du fehlst mir so. Pass auf dich auf. Wenn du da bist, sitzen wir abends im Kinderzimmer und sehen unserem Baby beim Schlafen zu. Das machen wir, machen wir das? Ich sende dir tausend Küsse in die Ferne.«
Das Leben hatte allerdings andere Pläne für die junge Frau. So kam, was Sie an dieser Stelle vielleicht schon geahnt haben: Der Mann fiel im Krieg und die junge Frau musste ihre Tochter allein zur Welt bringen und großziehen. Das fertige Haus bezog sie nie. Zu groß waren ihr Schmerz und ihre Trauer um den Verlust ihres Mannes. Zu viele unerfüllte Hoffnungen und Träume waren damit verbunden. Sie blieb lieber bei ihrer Familie und verbrachte den Rest ihres Lebens in ihrem Elternhaus.
Das Haus, das für sie und ihren Mann gedacht war, besuchte sie jeden Tag. Sie hielt es sauber und wohnlich. Manchmal verlor sie sich dabei in Tagträumen. Dann hatte sie so bunte und lebhafte Bilder von ihm vor ihrem inneren Auge, dass ihr ein paar Momente lang war, als wäre er gar nicht gefallen. Als würde er vielmehr jeden Moment zur Tür hereinspazieren, »Hallo, Schatz, ich bin wieder hier!«, würde er rufen und sie dafür loben, was sie aus dem Haus gemacht hatte. Sie würde auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und sich voller Freude in seine Arme werfen. Tränen der Erleichterung würden über ihre Wangen rollen.
Doch nach wenigen Sekunden verlor ihr Körper jegliche Spannung und sie ließ die Schultern verzagt hängen. Sie wusste, dass das nie passieren würde. Ihr Mann war tot und würde nie wieder heimkehren. Dann öffnete sie stumm alle Fenster, um zu lüften und wenn sie damit fertig war, schloss sie die Tür hinter sich wieder ab.
Ihr ganzes Leben lang machte sie das so.
Als die Frau starb, erbte ihre längst erwachsene Tochter das Haus. Sie fühlte sich dort nie wohl, weil es sie an das Leid ihrer Mutter erinnerte und an ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte. An so einem Ort wollte sie nicht leben. Doch aus Respekt gegenüber ihrer Mutter entschied sie sich dagegen, das Haus zu verkaufen. Sie behielt es und fuhr regelmäßig hin, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sorgte dafür, dass ihr eigener Sohn lange nichts davon mitbekam. Sie wollte ihn nicht belasten mit den düsteren Gefühlen, die an dem Haus hafteten.
Als ihr Sohn älter wurde, wurde er dennoch aufmerksam auf das alte Haus. »Ich will es sehen! Nimm mich mit«, bat er seine Mutter. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst schon erwachsen.
»Wie du willst«, antwortete sie ihm. »Erwarte aber nicht zu viel. Es ist nichts weiter als ein leerstehendes, altes Haus.«
»Das macht nichts. Ich will es trotzdem sehen«, beharrte ihr Sohn. Er wollte den Ort sehen, der so eng mit der tragischen Geschichte seiner Großmutter verknüpft war.
Als der Sohn das Haus zum ersten Mal betrat, war er erstaunt. Alles war eingepackt, sogar der Kachelofen war in Plastik gehüllt. Wie im Dornröschenschlaf offenbarte sich ihm das Innenleben dieses Hauses und er entschloss sich, den Räumen endlich Leben einzuhauchen.
Als ich selbst vor Ort war, konnte ich mich von der liebevollen Auswahl an Mobiliar überzeugen, die seine Großmutter getroffen hatte. Viele alte Sachen erinnerten an das junge Paar, das hier zu Beginn des Zweitens Weltkriegs ein glückliches Leben geplant hatte. Da und dort lehnten Bilder von dem angehenden Bürofräulein und dem Tischler. In einem Zimmer stand eine verglaste Vitrine, die in der typischen Formensprache der 1940er-Jahre gehalten war und die unter Antiquitätensammlern vielleicht sogar einiges wert war. Darin befand sich altes Werkzeug aus der Werkstatt des Tischlers. Alte Meißeln und Zangen lagen sorgfältig nebeneinander aufgereiht. In einer weißen Schüssel aus Porzellan hatte die Frau sogar eine Handvoll Holzspäne aufbewahrt. Neben der Vitrine stand ein dunkelbrauner Werkzeugkoffer, ebenfalls voll mit Arbeitsutensilien des Gefallenen.
Es war eine Zeitreise, das Haus zu betreten und das Plastik schien nicht nur die Möbel, sondern auch den Schmerz zu konservieren. Selbst ich spürte dort eine innere Schwere.
»Für mein Empfinden ist das alles hier mit trauriger Energie aufgeladen«, sagte ich zu meinem Auftraggeber, dem Enkel des Bürofräuleins und des Tischlers, nachdem er mich durch alle Zimmer geführt hatte. Ich erklärte ihm, dass die Trauer in diesem Haus auf gewisse Weise gespeichert war. »Es war mein erster Eindruck, als ich das Haus betrat«, sagte ich. »Verstehen Sie, was ich meine?«
Er nickte. »Ich sollte wohl die Einrichtung loswerden«, sagte er. »Ich könnte einen Teil verkaufen und den Rest spenden. Dann lüfte ich gründlich und lasse alles neu ausmalen.«
Der Enkel befreite das Haus von seiner Trauer, die sich über all die Jahre auf diesen Ort übertragen zu haben schien. Inzwischen wohnt eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern dort. Sie erfüllt das einstige Geisterhaus mit frischem, neuem Leben und prägt diesen Ort damit möglicherweise für künftige Generationen um.
Das Strahlen-Wissen unserer Ahnen
Schon vor Tausenden von Jahren arbeiteten Menschen mit Erdstrahlen, ohne etwas über Periodensysteme und Ordnungszahlen zu wissen.
Einige unserer Vorfahren arbeiteten bereits mit Radon, einem Gas, dessen Isotope radioaktiv sind. Es entsteht beim natürlichen Zerfallsprozess von Radium, das wiederum ein Zerfallsprodukt von Uran ist, einem Metall, das im Erdreich auf natürliche Weise vorkommt.
Als Gas mit sehr hoher Dichte kann sich Radon in Gebäuden, besonders in Kellern und den unteren Stockwerken, in physiologisch bedeutsamen Mengen ansammeln. 2018 ließ das österreichische Bundesland Salzburg in 3.400 Wohnobjekten Radon-Messungen durchführen und stellte fest, dass in zehn Prozent der Wohnungen der Schwellenwert von 300 Becquerel pro Kubikmeter Luft überschritten war.
Doch während eine dauerhafte radioaktive Strahlenbelastung die Gesundheit gefährdet, kann ihr vorübergehender Einsatz auch heilsame Wirkung haben. Die Radonbalneologie etwa ist die therapeutische Anwendung von Radon in Heilbädern oder Heilstollen. Früher war der Begriff Radiumbad verbreitet.
Wirken soll diese Form der Behandlung bei chronischentzündlichen Erkrankungen, wie Morbus Bechterew, Rheumatoider Arthritis, Asthma bronchiale oder Arthroseschmerzen. Auch bei Hauterkrankungen, wie verzögerter Wundheilung, Psoriasis oder Neurodermitis, kommt sie zum Einsatz. Kontrollierte Studien zum Wirkungsnachweis liegen bisher allerdings nur für Morbus Bechterew, Arthritis und Arthrose vor.
Ihren Namen erhielt die Radioaktivität zwar erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch das Ehepaar Marie und Pierre Curie, nachdem zwei Jahre zuvor Antoine Henri Becquerel das Phänomen entdeckt hatte, doch bereits zwei Jahrtausende früher nutzten die alten Griechen in Delphi die unsichtbaren Kräfte von Orten, um ihre Gesundheit positiv zu beeinflussen. Dort gab es