Bildungsethik (E-Book). Thomas Detjen Philipp
leisten viel Wertvolleres: Sie schaffen eine lebenswerte Welt, sie ermöglichen Menschen, andere als vollwertige menschliche Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen zu betrachten, die Respekt und Empathie verdienen, und sie lassen Angst und Misstrauen zugunsten eines verständnisvollen und vernunftgeleiteten Diskurses überwinden.»18
Lebendige Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Für den Pädagogen Volker Ladenthin lässt sich Bildung nicht objektiv definieren. Das Wort erhalte Sinn nur durch den Verweis auf eine ursprüngliche Selbsterfahrung. Es sei nur durch Selbstreflexion erreichbar, durch die Besinnung auf ein immer schon gegebenes Erleben. Ladenthins Sprache ist einladend und aphoristisch; meditativ, nicht analytisch. Kurze Gedanken wollen zum Denken bringen. Und ebenso Quellen: Ladenthin versammelt klassische Texte zur Theorie der Bildung von Demokrit über Comenius bis Lyotard.19
Bildung entstehe aus der Erfahrung einer Differenz: Reibung an der Welt, an Geschichte, Gesellschaft und Natur. Am stärksten aber werde die Differenz des Menschen mit sich selbst erlebt: wenn Erfahrung und Selbstbild auseinanderklafften. Hier entzünde sich die Auseinandersetzung mit sich selbst. Bildung sei ein Gespräch zwischen dem Erleben der Gegenwart und dem absoluten Ziel in seinen drei Dimensionen Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn. «Die Geschichte schon verlassen, die Zukunft noch nicht erreicht: das ist Lernen. Lernen lässt sich nicht fixieren, weil es sich ereignet.» Diese Auseinandersetzung sei mit dem Menschen gegeben; «darum kann man das Lernen nicht lernen», im Unterschied zum Handeln. «Der Lehrende leitet den Lernenden an, sich selbst zu belehren. Lehren ist Aufforderung zu Selbsttätigkeit. Lernen ist Selbsttätigkeit in Ahnung einer Differenz, bei der man nie auf beiden Seiten zugleich und auch in der Mitte sich nicht aufhalten kann. Man denkt unter Anleitung der Sache. Denken kann man immer nur selbst. Bildendes Lernen ist zwanglose Nötigung. Vorausgesetzt ist Freiheit des Denkens. Alles könnte auch ganz anders gedacht und gemacht werden.» Selbständige und verantwortungsbewusste Orientierung in einer offenen Welt, mit dem Ziel gelingenden Lebens.
Bildung sei stete Suche nach dem richtigen Ausdruck, unabschliessbar: Kein Sprechen genüge dem Richtigen. Immer sei neuer Fortschritt möglich. Bildung könne darum nie totalitär sein; Bildung und Macht widersprächen sich. Hieraus ergibt sich eine logisch zwingende Kritik der Reformen. «Im Bildungswesen findet heute ein Umbau statt. Das ‹Man› will keine Bildung mehr, sondern Kompetenz, auf die hin sich Qualifikationsprozesse selbst organisieren sollen. Von der Administration wird nicht mehr Vernunft und Einsicht bei Schülern, Lehrern, Schulleitung, Eltern angesprochen, sondern systemadäquates Verhalten erwartet. Das System setzt Ziele und prüft, ob die Ziele erreicht werden (nicht, ob sie als vernünftig akzeptiert werden). Die Steuerung erfolgt über Zielvereinbarungen und Output-Kontrolle. Nicht mehr das berufsständige Wissen (pädagogische Grundsätze, Lehrpläne, Methoden) handelt argumentativ die Umsetzung des Richtigen aus, sondern durch die Kontrolle des Outputs (Erreichung von Qualitätszielen) wird Verhalten erzwungen. Es wird nicht mehr gefragt, ob pädagogisches Handeln in personalen Bezügen gelingt, sondern gemessen, ob der Output stimmt. Die Begründung wird durch die Messung ersetzt.
Auf der einen Seite überlässt man das System dem angeblich freien Markt. Wettbewerb von Schulen, öffentliches Ranking, selbständige Schule mit Leitbildentwicklung. Auf der anderen Seite wird der drohende Kontrollverlust der Verwaltung durch zentralistische Evaluation kompensiert. Autonomisierung meint in Wirklichkeit intelligente Steuerung. Eine Normierung und Vereinheitlichung bisher unbekannten Ausmasses wird als Freiheit deklariert. Eine um Bildung verkürzte ‹Bildungspolitik› ist Gewalt gegen Menschen.»
Ladenthin begreift Bildung schlüssig als lebendige Erfahrung. Das Wort gewinnt seinen Sinn nur aus der lebendigen Erfahrung des Ich. Hieraus ergibt sich seine politische Kritik. Auch dass Bildung dem Menschen zustösst, als Ereignis, sieht Ladenthin wunderbar klar: Obwohl es Denken nur als Selbstaktivität gebe, gerate der Mensch mehr in es hinein, als dass er es aktiv betreibe. Auch für das Ich sei Bildung nicht machbar. Es werde passiv gebildet durch die Zumutungen der Lebensgeschichte.20
Bildungsqualen. Dieser Titel der Erziehungswissenschaftler Sandra Rademacher und Andreas Wernet drückt «diffuses Unbehagen an der Welt der Bildung» aus. Es sei «flächendeckend, weil das Spiel heillos unaufrichtig ist», bestimmt von «unkritische(r) Kritik, die Kritisierten und Kritikern gleichermassen zugutekommt». Letztere baden «in selbstgefällige(r) Attitüde des gegen-den Strom-Schwimmens». Ihre «Rolle ist im Drehbuch der Gesellschaft nicht die schlechteste. Sie beruht auf hintergründige(m) Agreement mit den Kritisierten; der vermeintliche Sand (wird) zum Schmiermittel». Die Reformpädagogen wüssten um ihren «kulturindustriellen Kitsch. Bei jeder Gelegenheit sind sie hinter der Bühne bereit, ihre Visionen bzw. diejenigen, die sie ernst nehmen, zu belächeln». Und die Technokraten «bestätigt die Kritik in ihrer Bedeutsamkeit», «sich in wohlwollender Herablassung gefallen(d)». Sie «wissen besser als ihre Kritiker, dass ihre Position politisch wie forschungslogisch auf Sand gebaut ist.»
Aufgabe der Erziehungswissenschaft wäre, den «Verblendungszusammenhang aufzudecken». Doch auch wo sie nicht in Betroffenheit, Weltverbesserung oder «intellektueller Servilität» gegenüber der Macht steckenbleibe, sei sie Teil des Syndroms. Der Einwurf der beiden Autoren lässt einen lichten Augenblick zu, der die Atmosphäre in Pädagogik und Erziehungswissenschaft wahrnimmt.21 Sie passt, so wird sich zeigen, genau in Habermas’ Analyse: die lebensweltliche Perspektive muss diffus bleiben, wo systemische Interessen sie ausbeuten. Denn ihr fehlen schon die Ressourcen, ihre Qualen klar wahrzunehmen.
«Sich bilden – das ist wie Aufwachen.» Der Philosoph Peter Bieri, der 2007 im Dissens über Bologna seine Professur niederlegte, sieht Selbstbestimmung des aufgeklärten Ich von aussen bedroht durch Manipulation, die ein Übel darstelle, weil das Selbstbild sie nicht kontrolliere. Sie entfremde vom Selbstbild und zerreisse das Ich. Die Person werde übergangen und verliere an Würde, etwa durch Werbung ohne Chance des Bemerkens oder taktisches Ausnutzen von Gefühlen. Aber «am tückischsten sind die unauffälligen Manipulationen durch akzeptierte Bilder, Metaphern und rhetorische Formeln. Es gibt Arten, über die Welt und uns Menschen zu reden, die jede Ausbildung eines eigenen, differenzierten Selbstbilds und selbstbestimmten Lebensstils verhindern. Fernsehen, Zeitungen und politische Reden sind voll davon, und es gibt jede Menge Mitläufer.»22 Dem könne das Ich nur die Selbstreflexion entgegensetzen, die stete Frage: Stimmt das eigentlich? Ist das recht beschrieben? Möchte ich in dieser Weise sehen und sprechen?
Auch von innen sei die Selbstbestimmung bedroht. «Erinnerungen können ein Kerker sein, wenn sie uns immer wieder überwältigen oder als verdrängte Vergangenheit unser Erleben aus tückischem Dunkel einschnüren. Wir können ihre Tyrannei nur brechen, wenn wir sie zu Wort kommen lassen. Als erzählte werden sie zu verständlichen Erinnerungen, denen wir nicht wehrlos ausgeliefert sind. Erinnerungen sind nicht frei verfügbar: Wir können ihr Entstehen nicht verhindern und sie nach Belieben löschen. In diesem Sinne sind wir als erinnernde Wesen keine selbstbestimmten Wesen.» Doch aufmerksames Zuhören könne dieses Fremde in ein zusammenhängendes Ich einbinden. Dazu genüge Wahrnehmen, nach Art der Esoterik, nicht. Hinzutreten müsse sprachliche Differenzierung. «Aus Gefühlschaos kann durch sprachliche Artikulation emotionale Bestimmtheit werden.» So gewinne das Ich die Initiative zurück. «Selbstbestimmt werden wir durch die Position des Verstehens: Indem wir ihre Wucht und Aufdringlichkeit als Ausdruck unserer seelischen Identität sehen lernen, verlieren die Erinnerungen den Geschmack der Fremdbestimmung und hören auf, uns als Gegner zu belagern.» Das Fremde werde sprachlich, gewinne Zusammenhang, gehöre nun zum Ich und seiner Geschichte. Die Kontinuität des sprachlichen Selbstbildes zu wahren, sei das Ziel des Menschen. «Das erzählerische Selbstbild lässt sich dann in die Zukunft fortschreiben. Um nicht von Tag zu Tag in die Zukunft hineinzustolpern, sondern Zukunft als etwas zu erleben, dem wir mit einem selbstbestimmten Entwurf begegnen, brauchen wir ein Bild von dem, was wir sind und was wir werden wollen – ein Bild, das in einem stimmigen Zusammenhang mit der Vergangenheit stehen muss, wie wir sie uns erzählen.» Selbstbestimmung sei nur als Integration des inneren Fremden möglich.23
Im Zentrum steht das bewusste, kritische Ich der Aufklärung. Es sei sprachlich; in steter Auseinandersetzung müsse es sich selbst zusammenhalten. Bildung sei Selbstbestimmung, die sich gezielt in verschiedene Richtungen