Bildungsethik (E-Book). Thomas Detjen Philipp

Bildungsethik (E-Book) - Thomas Detjen Philipp


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kann nicht gebildet werden.» Die Lehrerin führe, indem sie Forderungen stelle und helfe, sie zu bewältigen. Drittens der Stoff, gegliedert in Schulfächer, die Weltzugänge repräsentierten. Die Orientierung an Kompetenzen zersetze dieses Dreieck: absichtlich, strategisch geplant. Der Stoff werde vom inneren Ziel des Lernens auf ein Mittel verkürzt, Kompetenzen zu entwickeln: Er werde gleichgültig. Die Neugier finde kein Gegenüber, so dass äusserlich motiviert werden müsse. Bei den Schülern könne «keine geordnete und geklärte Vorstellung von den Sachgebieten entstehen. Fachliches Wissen und Können wird verhindert.»35 Das Lernen verliere innere Richtung und Zusammenhang. Es werde sinnlos. Es entstehe nicht jene zusammenhängende Welt, derer die Entwicklung zur eigenständigen Person zwingend bedürfe. So entwurzle man Menschen.

      Statt im Klassenverband zu lernen, arbeiteten die Schüler einzeln, am besten per Sichtschutz getrennt und am PC. Der Lehrer unterrichte nicht, sondern stelle Arbeitsblätter zur Verfügung, verteile ‹Lernjobs› und berate als ‹Coach›. Die Schüler trügen ihren Lernfortschritt in Kompetenzraster ein: das Modell des flexiblen Selbstunternehmers. Aber auch wenn die Schüler auswählen und Prioritäten setzen könnten: Die Aufträge erteile doch der Lehrer. Aus dem Dreieck werde, unter der Oberfläche der Scheinselbständigkeit, eine lineare Machtbeziehung, die zur Anpassung zwinge. Solche ‹Selbststeuerung› «ist nicht jene geistige Selbständigkeit, auf die Bildung zielt. Dazu bedürften die Schüler eines Lehrers und einer Klassengemeinschaft, mit denen sie gemeinsam denken und diskutieren lernen könnten. Ohne zwischenmenschliche Beziehung ist die Entwicklung von Vernunft und Moral nicht möglich. Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbständigkeit, sondern auf unhinterfragte Anpassung.»36

      Die Reformen übertrügen die Sprache der Maschine und ihrer Steuerung auf das sich bildende Ich. Das unterlaufe dessen Freiheit und Würde. Was man Qualitätsmanagement nenne, basiere auf einem technischen Steuerungsmodell. Der Heizungstechniker stelle eine gewünschte Temperatur ein (Output-Standard), woraufhin der Kessel (der Unterricht) zu arbeiten beginne. Ein Messfühler (zentrale Prüfungen, PISA) messe die faktische Temperatur und melde das Ergebnis an die Steuerung (Zentralbehörde) zurück, die den Kessel nachsteuere. «Schule erscheint somit als Maschine, die programmiert und von aussen gesteuert werden könne. Lehrer sind in diesem System nur noch Techniker, die die Schüler nach Soll-Vorgaben steuern. Das widerspricht dem personalen Menschenbild des Grundgesetzes und unterläuft die Mündigkeit und Selbstverantwortung von Lehrern und Schülern.» Beide handelten nicht mehr selbstverantwortlich, sondern nur noch selbstgesteuert: «Sie richten ihr Handeln an den unhinterfragten Massgaben des Steuerungssystems aus.» Das Qualitätsmanagement wirke verdeckt, aber massiv normativ. Es unterdrücke die Individualität von Schüler wie Lehrperson. Aber: «Weil pädagogisches Handeln keine Technik, sondern eine menschliche Praxis ist, kann sie nicht aus Theorie eindeutig abgeleitet und nicht durch Techniken angeleitet werden.» Es sei nicht auf Selbststeuerung, sondern auf Gespräch und Beziehung zu setzen.37

      Manche bildungsromantische Reformpädagogen sähen strukturiertes, lehrergeleitetes Lernen als Widerspruch zur freien Entwicklung des Kindes und wollten alle Ansprüche erleichtern. Sie hätten sich mit neoliberalen Kräften verbündet; der gemeinsame Nenner sei das «egoistische Selbst: einmal als ‹homo oeconomicus›, einmal als ‹natürliches Kind›. Beide vernachlässigen Bindung und Beziehung. Beide vereinzeln die Schüler und bringen sie in verschärfte Konkurrenz.» So dass «ausgerechnet rot-grüne Regierungen diese Modelle der Selbststeuerung mit aller Gewalt durchsetzen – mit Unterstützung der neoliberalen Akteure wie der Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise gibt es eine ideologische Konvergenz: das Interesse an Macht und Steuerung.» Das führt Krautz zu energischer politischer Analyse und Kritik. Sorgfältig und detailreich weist er nach, wie OECD, Bertelsmann & Co. mit Methoden der klassischen Propaganda die öffentliche Meinung steuern.38 Und sie zu ruckartigen Grundsatzentscheidungen verleiten, an jeder parlamentarischen Willensbildung vorbei, durch Lobbying im Hinterzimmer.

      Analyse und Kritik der Machtverhältnisse. Die Globalisierung, so der Soziologe Richard Münch, entwurzle die nationalen Bildungssysteme. Bis vor Kurzem hätten demokratische Zielsetzung, bürokratische Verwaltung und pädagogische Professionalität Schule und Universität arbeitsteilig gesteuert. Diese Steuerung durch Input werde von der Steuerung durch Output verdrängt. Nun müsse sich alles vor einem Managementwissen rechtfertigen, das globale Geltung beanspruche. Nun seien Kennziffern die Kontrollinstanz, der sich niemand entziehen könne. Die Akteure könnten nur noch über sie in Kontakt treten. Das verändere alle Beziehungen. Die Definition, Produktion und Interpretation von Kennziffern werde zum Hauptgeschäft, hinter dem Bildung verschwinde.39

      Die Outputsteuerung werde von einem globalen Komplex inszeniert und beherrscht. «Die Bildung wird den nationalen Eliten (Lehrerverbänden, Politikern, Ministerialbeamten) von einer transnationalen Koalition von Forschern, Managern und Unternehmensberatern aus der Hand gerissen.» Ihnen müssten sich die lokalen Autoritäten unterwerfen, um als legitime, rational handelnde Akteure zu gelten. Die OECD veranstalteten PISA, koordinierten und lobbyierten. Konzerne wie Pearson gestalteten den PISA-Test und verkauften weltweit die Lehrmittel, die auf ihn vorbereiteten. Bildungsökonomen wie Eric Hanushek formulierten die Ideologie: PISA-Erfolg garantiere Wirtschaftswachstum, individuelle Lehrerleistung den Schulerfolg. Kleine Klassen seien nutzlos, Schulen zu privatisieren. McKinsey, BCG & Co legten Regierungen Ideologie und Lehrmittel nahe. Alle verdienten prächtig; McKinsey beziffere den globalen Bildungsmarkt auf acht Billionen. Der Komplex habe die Macht an sich gerissen, zu definieren, was vernünftig sei: eine Autorität, die niemand zur Rechenschaft ziehen könne.40

      Statt auf seine gewachsenen Ziele müsse das Bildungswesen nun darauf vorbereiten, sich auf dem Markt zu behaupten, im Dienst «der Produktion von Humankapital, das Rendite erwirtschaften soll». Wissenschaft werde nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern als Ressource, «monetäres und symbolisches Kapital zu akkumulieren». Misstrauen sei das Steuerungsprinzip, durch umfassende Rechenschaftspflicht, zu erfüllende Zahlen und stete externe Kontrolle. «Die Litanei von ‹Wettbewerb›, ‹Transparenz› und ‹Qualitätsmanagement› wird vom Sparkassendirektor bis zum Schulrektor und Universitätspräsidenten mit einer Selbstverständlichkeit heruntergebetet, dass sich niemand mehr eine andere Welt vorstellen kann.»41

      Der Pionierfall USA zeige einen vernichtenden Leistungsausweis. Laut einem Bericht der American Evaluation Association 2006 hätten sich 20 Jahre ausgiebiges Testen von Schulergebnissen gar nicht bewährt. Es fördere Teaching to the test, ohne Lehren und Lernen zu verbessern. Es habe weder die Qualität der Schulen, noch die Gerechtigkeit zwischen Rassen und Klassen verbessert, noch moralische, soziale oder ökonomische Vorteile hervorgebracht. Zum gleichen Urteil komme eine nationale Kommission, die diese Steuerung 2002–2011 zu bewerten hatte. Der Wettbewerb um Testwerte, so Münch, steigere weder die Leistung, noch reduziere er die Kluft zwischen arm und reich. Er belohne subalterne Konformität und ersticke Pädagogik, eigenständiges Denken, Kreativität und Innovation. Vergleichsstudien über Fehlleistungen von Schulen, für die sie gar nicht verantwortlich gemacht werden könnten, erzeugten Misstrauen, wo es auf Vertrauen ankomme. Das ruiniere die amerikanische Pädagogik: Das zentralisierte Teaching to the test habe mit dem explorativen und experimentellen Lernen Deweys nichts mehr gemein.42

      Management der Universität statt Selbstverwaltung bringe zwar mehr Flexibilität. Doch «wird die flächendeckende Kontrolle der Professoren durch Zielvereinbarungen und Kennziffern stupide Punktejäger an die Stelle kreativer, innerer Berufung und Begeisterung folgenden Forscher und Lehrer setzen und den Erkenntnisfortschritt erheblich bremsen». Die globale Durchsetzung des Marktparadigmas, nicht Leistungssteigerungen erklärten diesen akademischen Kapitalismus. Normativer Druck einer demokratisch nicht legitimierten Macht, nicht sachliche Überlegenheit.43

      Die Legitimität des Vorgehens, die schweren methodischen Probleme von PISA und Bologna würden gar nicht diskutiert. PISA messe nicht Leistungsunterschiede zwischen Ländern, sondern konstruiere sie, indem der legitime Pluralismus der Bildungssysteme und -ziele einheitlichen, ökonomischen Massstäben unterworfen werde! Das Shanghai-Ranking der 500 «besten» Universitäten messe Sichtbarkeit, nicht Qualität. Blosser Umtrieb steigere erstere, letztere nicht. Und die Vielfalt der sozialen


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