Sprache und Partizipation im Schulfeld (E-Book). Stefan Hauser
untersucht. Im Zentrum stand die Frage, wie Partizipationsmöglichkeiten für Kinder in unterschiedlichen Kontexten – Familie, Peergroup, Schule und Gemeinde – gestaltet werden und wie die jeweiligen Akteurinnen und Akteure diese erleben. Im Rahmen eines ethnografischen Vorgehens (Breidenstein et al. 2013) wurden in zwei Gemeinden Schülerrats- und Kinderratssitzungen sowie Projektveranstaltungen teilnehmend beobachtet und insgesamt 32 leitfadengestützte Interviews mit Erwachsenen (Lehrer/-innen, sozialpädagogischen Fachkräften, Eltern, Verwalter/ -innen, Politiker/-innen) und Kindern geführt (Witzel 2000).4 Die Daten wurden im Kontext zweier kontrastierend ausgewählter Sozialräume in zwei Städten in der Deutschschweiz erhoben: Als Zentrum der Erhebung in Tulpenberg wurde ein Schulhaus an der Grenze eines privilegierten und eines deprivilegierten Wohnquartiers ausgewählt, das durch diese Lage von Kindern mit ganz unterschiedlichen sozio-ökonomischen Hintergründen besucht wird; in Rosenberg wurde ein Schulhaus in einem vorrangig von Schweizer Mittelschichtsfamilien geprägten Wohnquartier ausgewählt. Von den teilnehmenden Beobachtungen wurden ausführliche Protokolle angefertigt. Die audioaufgezeichneten Interviews wurden vollständig transkribiert, wobei alle Namen von Personen und Orten anonymisiert wurden. Die transkribierten Interviews sowie die Beobachtungsprotokolle wurden von der Forschungsgruppe mit gleichzeitigem Bezug auf die Methodik der Grounded Theory analysiert (Strauss 1998).
Für die folgenden Analysen wurden solche Interviews mit pädagogischen Fachkräften und Kindern ausgewählt, die geeignet sind, der Frage nachzugehen, inwieweit Partizipationsmöglichkeiten in der Schule von sprachlichen Fähigkeiten abhängen und so indirekt auch den schulischen Bildungserfolg bedingen. Die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte wurde gewählt, weil diese entscheidend dazu beitragen, den Zugang zu den schulischen Partizipationsgremien zu regulieren und so zum einen entsprechende Differenzpraktiken besser rekonstruiert, zum anderen aber auch handlungspraktische Herausforderungen für die Beteiligten nachgezeichnet werden können. Kontrastierend hierzu kann anhand der Perspektive der Kinder die Frage danach gestellt werden, wie diese mit den schulischen Anforderungen und Erwartungen umgehen und inwiefern sie die Relevanz von sprachlichen Fähigkeiten für die Teilhabe an schulischen Partizipationsmöglichkeiten äußern.
4Bildung, Sprache und Partizipation: Differenzpraktiken in schulischen Partizipationsgremien
Welche Differenzpraktiken und welche handlungspraktischen Herausforderungen lassen sich nun aufzeigen und in welcher Weise werden dabei sprachliche Fähigkeiten für den Zugang zu Partizipationsgremien als schulischen Bildungsorten bedeutsam? Kinder und Jugendliche kommen mit ungleichen Voraussetzungen in die Schule. Das hat zur Folge, dass Lehrpersonen vor allem die Herausforderung bewältigen müssen – oder die Chance nutzen können –, heterogene Lerngruppen zu gestalten (vgl. Prengel 2017; Idel et al. 2017). Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die sogenannte Bildungssprache als grundlegend gilt, diese kann aber auch im schulischen Kontext gelernt und vermittelt werden (vgl. etwa Gogolin et al. 2013). Als charakteristische Merkmale einer Bildungssprache und der damit verbundenen Sprachfertigkeiten können unter anderem schlüssiges Argumentieren, das Wissen zu bestimmten Themen und das differenzierte Vokabular sowie das Verbalisieren abstrakter Inhalte genannt werden (vgl. ebd.).
4.1 Perspektive der Lehrpersonen
Schulische Partizipationsangebote, wie sie im Rahmen der oben skizzierten Studie beobachtet wurden, könnten geeignet sein, eben diese Fähigkeiten zu unterstützen: durch Einüben des Vertretens eigener Positionen, durch eine Erweiterung des Vokabulars über inhaltliche Diskussionen sowie im gemeinsamen Nachdenken über abstraktere Phänomene wie Verfahren der Entscheidungsfindung. Im Sprechen der befragten Lehrpersonen wird allerdings auch deutlich, dass von den Kindern bestimmte Fähigkeiten als Voraussetzung für gelingende Partizipation erwartet werden. Entsprechend sind es sodann auch ganz bestimmte Kinder, die den Zugang zu gremienförmigen Angeboten und damit zu einem pädagogischen Übungsfeld partizipativer Entscheidungspraktiken finden. Welche Differenzen dabei relevant werden, macht die folgende Aussage einer Lehrkraft deutlich:
«Ja, also ich meine, das ist eben so, dass die Schüler kommen, die diskutieren können, die zuhören können, die aufeinander eingehen können und so, weil sie mussten sich in ihrer Klasse zur Wahl stellen. Sie mussten eine Bewerbung schreiben, eine Begründung, warum bin ich geeignet, was würde ich denn für das Schulhaus machen, und sie mussten das dann quasi in ihrer Klasse zeigen und präsentieren, und die Klasse hat dann darüber abgestimmt, welches Mädchen und welcher Bube. Also denen ist im Voraus schon bewusst, dass sie einfach kommunikativ sein müssen.» (Frau Geissbühler, Rosenberg)
In der Schule in Rosenberg müssen die Kinder, um am Schülerrat überhaupt partizipieren zu können, ein formales Wahlverfahren bestreiten. Als gewählte Kandidatin beziehungsweise gewählter Kandidat werden sie dann in den Schülerrat entsendet. Dementsprechend werden von der Lehrperson Erwartungen an das «kompetente» Kind formuliert, das zunächst eine Art Assessment durchlaufen und sich selbst «vermarkten» muss. Die Analogie zu gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskursen zum Leistungsprinzip und zum Selbstverantwortungsgedanken ist insofern bemerkenswert, als soziale Ungleichheit zwischen den Kindern zu einem individuellen Merkmal erklärt wird (vgl. kritisch hierzu von Schwanenflügel 2015, 58 f.). Denn die Kinder, die «kommunikativ» sind und sich in ihrer Klasse selbstbewusst präsentieren, haben eher die Möglichkeit, im Rahmen dieses Verfahrens als Vertreterinnen oder Vertreter ihrer Klasse ausgewählt zu werden. Über die konkreten Fähigkeiten, wie diskutieren und zuhören können, sollten die Kinder bereits vor ihrer Teilnahme an institutionalisierten Partizipationsanlässen verfügen. Die Differenzsetzungen, anhand derer die Auswahl der Kinder vollzogen wird, folgen demnach den Differenzlinien, die sich zum einen durch die Beherrschung der Bildungssprache, zum anderen aber auch durch Fähigkeiten der Selbstpräsentation ergeben. Im Sinne «gelingender» Partizipation wird so gesteuert, dass nur bestimmte Kinder das Gremium des Schülerrates besuchen und mitgestalten – oder wie es ein Kind ausdrückt: «schon ein bisschen mehr mitbestimmen» können als andere (Pascal). Die sich aus diesen Erwartungen und Begrenzungen ergebenden ausschließenden Mechanismen für die Kinder, die den Anforderungen durch ungleiche Voraussetzungen nicht genügen können (vgl. Lareau 2011), werden von den Lehrpersonen kaum reflektiert.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Zuschreibung von Kompetenzen wie «kommunikativ sein», die den Erwartungen der schulischen Akteurinnen und Akteure an «partizipierende» Kinder entsprechen, über eine Zuschreibung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten erfolgen kann. Dies wird von einer Schulleitung wie folgt formuliert:
«Und das kennen viele fremdsprachige Kinder sowieso nicht aus, von ihren Ländern und auch von ihren Familien her nicht, dass man Mitsprache hat und dass man gute Argumente vorbringen kann und vielleicht die Gegenseite sogar überzeugen kann. Oder dass halt in Ländern keine Demokratie herrscht, wie wir das gewohnt sind. Wir haben dann gemerkt, dass wir das ein bisschen steuern müssen, vor allem auch die Auswahl der Kinder, also die müssen gewisse Fähigkeiten haben.» (Frau Sehm, Tulpenberg)
Diese Aussage einer Schulleitung macht eine weitere Differenzlinie deutlich, anhand derer die Auswahl für die Teilnahme am Gremium des Schülerrates getroffen wird. Hier erhalten zugeschriebene natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten – wie «fremdsprachige Kinder» – Bedeutung, aufgrund derer eben diesen Kindern die oben relevant gesetzten Fähigkeiten abgesprochen werden. Die defizitären und pauschalen Zuschreibungen, die bestimmten Familien die Kompetenz zuschreiben, Kinder in eine «demokratische» Gesellschaft einzusozialisieren, während sie sie anderen absprechen, erfolgen über beide Standorte hinweg. Sprachkompetenz und die Fähigkeit zur Selbstpräsentation erscheinen in beiden Darstellungen als Voraussetzung, überhaupt in dem «Spiel» (Bourdieu 2005) der Partizipation mitspielen zu können. Die Kinder müssen aus Sicht der Fachkräfte über diese Fähigkeiten verfügen, um ihre Funktion als Vertreterin oder Vertreter in einem Gremium erfüllen und die damit einhergehende Verantwortung übernehmen zu können. Statt Defizite auszugleichen und allen Kindern das Einüben und Festigen politischer Artikulationsweisen und -formen zu ermöglichen, wird nur denjenigen Kindern, die bereits über die verlangten Fähigkeiten verfügen, ermöglicht, politische Partizipationsprozesse einzuüben sowie vorhandenes Wissen und vorhandene Fähigkeiten zu festigen und weiterzuentwickeln.
4.2