Körper sucht Seele. Anna Schreiber
Alkoholismus und Depression zum Beispiel sind keine Ausdrucksformen von Vitalität. Sie sind Ausdrucksformen von Leid. Prostitution ist keine Ausdrucksform von Lust. Auch sie ist eine Ausdrucksform von Leid.
Es ist möglich, sich lediglich mit der Oberfläche der Erscheinungen zu beschäftigen. Es ist möglich, sich ablenken zu lassen von Worten und Bildern, nicht tiefer zu verstehen. Die Oberfläche, das ist das glamouröse Bild des gutverdienenden Callgirls, des hedonistischen Freiers, der sich am Feierabend eine freudvolle Abwechslung gönnt. Dieses Bild beunruhigt unser Gewissen nicht. Es genügt jedoch ein Blick in die Augen einer jungen Frau am Straßenrand – Leere, nicht anwesend –, die auf Freier wartet, und die Fassade bröckelt. Ein Blick in die Augen einer Frau – so voller Scham –, die erzählt, sie habe vor über zwanzig Jahren zweimal von einem Mann Geld genommen für Sex, und die Fassade wird brüchig. Ein Blick in die Augen eines Mannes – nur nicht gesehen werden –, der aus einem Bordell kommt, sich unsicher auf der Straße umsieht. Ein Blick in die Augen eines Mannes – hoffnungslos traurig –, der berichtet, dass seine Frau seit vielen Jahren, seit der Geburt des letzten Kindes, kein Interesse mehr an Sex mit ihm habe. Ein Blick in die Augen einer Ehefrau – waidwund, verletzt –, die erfahren hat, dass auch ihr Mann regelmäßig in den Puff geht. Diese Augenblicke enttarnen die Fassade von „Sollen sie doch machen“. Sie entlassen uns mit der Ahnung „Da stimmt etwas nicht“. Und das ist richtig: Es stimmt etwas nicht. Sex gegen Geld ist nicht in Ordnung. Und die Tatsache, dass Prostitution heute im gesellschaftlichen Konsens in gefährliche Nähe von Beliebigkeit und Normalität verschoben wurde, macht das Nicht-Stimmige schlimmer, denn es ist verborgener. Die Nicht-Stimmigkeit ist nicht mehr sofort und für jeden wahrnehmbar. In früheren Zeiten und heute an anderen Orten, in denen die Prostitution allgemein geächtet war und ist, war und ist es auch schlimm. Doch das Schlimme ist für jeden offensichtlich. Die Prostituierten wissen um ihre Schmach, die Freier verheimlichen nach Möglichkeit ihr Tun, die Kinder wachsen in dieser gesellschaftlichen Tradierung auf. Das macht die Thematik in keiner Weise besser, doch leichter erkennbar. Heute leben wir in einer Gesellschaft, die – nicht nur, aber auch zum Thema Prostitution – den gesellschaftlichen Diskurs so sehr an der Oberfläche führt, dass ohne tieferen Einblick und umfassendere Kenntnis der Thematik ein den tatsächlichen Gegebenheiten konträres Bild entsteht. Es führt nicht nur zum Nicht-Verstehen, es führt zum Missverstehen. Die Dissonanz lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen. Man muss schon sehr genau hinsehen, hinfühlen, hindenken, um wahrzunehmen, dass da etwas nicht stimmt. Das ist der gefährliche Unterschied.
Während ich dieses Buch schreibe, wird in unserer Tageszeitung eine demnächst in Kraft tretende Neuregelung als Errungenschaft propagiert, der Straßenstrich solle auf die Zeit von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens eingegrenzt werden. Dies diene dem Schutz der Jugendlichen, die vom Sport heimradeln, und der Anwohner, die sich belästigt fühlten, wenn sie mit ihrem Hund Gassi gehen. Und ebenso vermeldet die Zeitung, dass die Sozialversicherungsmöglichkeit für Prostituierte ein wichtiger Schritt sei auf dem Weg in die Normalität. – Also was jetzt? Normal oder nicht? Muss der Frisör sein Dienstleistungsgewerbe auch verstecken, weil sich Anwohner belästigt fühlen, wenn sie ihren Hund am Frisörsalon vorbeiführen? Oder ist es zum Beispiel denkbar, dass eine Familienministerin, die sich in den öffentlich-rechtlichen Medien für die Prostitution als Dienstleistungsgewerbe einsetzt, nebenbei erwähnt, sie habe sich in ihrer Jugend auch prostituiert? Undenkbar, was würde aus ihrer Karriere? Also was jetzt? Normal oder nicht? Nicht normal!
Sexualität: Dienst am Leben versus Ort der Grausamkeit
Sexualität kann wunderschön sein. Sie ist eine vitale Funktion unseres Körpers, durch die wir Freude, Gesundheit, Kontakt, Bindung, Erfüllung und Heilung erfahren können. Sie steht im Dienst unseres Überlebens, im rein physischen Sinne im Dienst der Fortpflanzung. Sie steht im psychischen Sinne im Dienst von Bindung und Kontakt. Sie steht im Dienst der Herzensliebe und der Heilung auf seelischer Ebene. Sexualität kann auch Ort von schwerer Gewalt, Verletzung, Schmerz und unvorstellbarer Grausamkeit sein, offen oder verdeckt. Sie kann zu lebenslangem Leiden führen, zum Tode, physisch oder psychisch. Sie ist empfindlich und störungsanfällig. Steht sie nicht im Dienst des Lebens, führt sie zu Störungen vielfältigster Art, deren Ausprägung wir nicht auf den ersten Blick mit einer gestörten Sexualität in Verbindung bringen.
Mit der Sexualität verhält es sich ähnlich wie mit unserer Ernährung. Auch unsere Ernährung ist eine vitale Funktion unseres Körpers, durch die wir Freude, Genuss, Gesundheit und Gemeinschaft erleben können. Sie dient unserem Überleben, rein physisch und auch psychisch als gemeinschaftsstiftende Funktion. Sie dient im seelischen Sinne der Agape, dem Liebesmahl. Fehlende Nahrung führt zum Tode. Mangelhafte Ernährung führt zu Krankheit. Auch unsere Ernährung ist störungsanfällig und bedarf unserer Aufmerksamkeit. Die verschiedenen Ausprägungsformen von falscher oder mangelhafter Ernährung sind im Alltagswissen hinreichend bekannt. Es käme zum Beispiel kein Mensch mehr auf die Idee, der jahrelange ausschließliche Verzehr von Tütensuppen sei unbedenklich. Man stirbt daran nicht unmittelbar, auch nicht mittelfristig, doch die Mangelerscheinungen beim exzessiven Tütensuppenverzehr sind gewiss. Die Art und Weise, wie oberflächlich – meist auf die physiologische Lust, die Frequenz und Varianz bezogen – Sexualität heute thematisiert und wie darauf Bezug genommen wird, kann – um beim Bild zu bleiben – verglichen werden mit dem jahrelangen Verzehr von Tütensuppen verbunden mit der Aussage, es sei doch alles prima so.
Das Wissen um gute Ernährung wird schon ab dem Kindergarten vermittelt. Das Wissen um „gute“ Sexualität leider nicht. Es kommt eben nicht nur auf den „Geschmack“ an, die kurzfristige Befriedigung und „Sättigung“, sondern auch die „Zutaten“ sind wichtig, ebenso wie die „Herstellung“. Viele Menschen leiden massiv an ihrer unbefriedigten Sexualität. Das kann sich gravierend auf ihre physische und psychische Gesundheit auswirken. Von ihren Krankheiten erzählen sie ihrer Ärztin, von ihrem Sexualleben kaum. Wie heilend wäre es doch, wenn bei einer ganzheitlichen ärztlichen Anamnese und Diagnostik nicht nur die Ernährungslage eines Menschen berücksichtigt, sondern ebensolche Beachtung seinem sexuellen Erleben geschenkt würde? Würden wir unserer Sexualität ebensoviel Aufmerksamkeit widmen wie unserer Ernährung, es ginge uns allen deutlich besser. Würden wir nicht nur die Oberfläche der Sexualität beachten, also zum Beispiel Frequenz und Varianz, sondern immer auch versuchen, die Bedeutung der tiefen Dimensionen zu erfassen, also zum Beispiel Wirkung, Kontakt und Geschenk, wie anders gingen wir durch unsere Tage. Würde schon Kindern vermittelt, dass Sex gegen Geld ein Unding ist, gäbe es mehr Klarheit. So wie ihnen von klein auf vermittelt wird, dass keiner sie gegen ihren Willen anfassen darf. So wüssten schon die Kinder, dass das, was Frauen und Männer in der Prostitution machen, nicht in Ordnung ist. Sie wären in ihrem eigenen Empfinden bestätigt statt verwirrt. Auf einem anderen Blatt steht, dass sich dadurch Prostitution nicht unmittelbar verhindern ließe.
Wenn sich in der Gesellschaft ein Konsens darüber erreichen ließe, dass Prostitution ein Unding ist, dann würden Jugendliche vielleicht noch genauso viele Pornos auf dem Schulhof ansehen, doch wüssten sie genau, dass alles, was sie dort sehen, eine tragische Aufführung ist. Die Jugendlichen – würde ihnen das deutlich vermittelt – kämen nicht auf die Idee, sich und ihr sexuelles Erleben mit dem Gesehenen zu vergleichen, um dann in ihrem eigenen Erleben zutiefst verunsichert zu werden. Wird der gesellschaftliche Anschein erzeugt, Prostitution und Pornografie seien Varianten oder Spielarten der Sexualität, wird nicht nur der Anschein einer Wirklichkeit erzeugt, die es nicht gibt, sondern es wird damit die Realität bewusst verschleiert, die Realität der Not. Bilder und Gefühle werden bewusst evoziert, die eine Scheinwelt entstehen lassen, in der sich noch niemand zuhause und geborgen gefühlt hat. Das Erwachen ist sicher. Die Realitätskonfrontation ist gewiss. Die Verwirrung und Verunsicherung auch, solange kein fundiertes Wissen als Gegengewicht erlangt werden konnte, das zumindest Orientierung gibt. Dass Prostitution und Pornografie der rücksichtslosen Gewinnerzielungsabsicht einiger weniger dient, kommt erschwerend hinzu.
Es geht bei der Sexualität um eine zentrale und vitale Funktion. Irrtümer und Nichtwissen haben weitreichende und nicht unmittelbar absehbare Konsequenzen. Es geht um nicht weniger als unsere Lebendigkeit. Es geht um unser Leben!
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