Körper sucht Seele. Anna Schreiber
voraus? Das Erleben einer abgetrennten inneren Welt. Das Erleben des Getrennt-Seins. Ein unbekanntes, dunkles Innen, einsam. Ein Außen, das unseren Wert in der Welt und für die Welt meint definieren zu dürfen. Die Aufmerksamkeit ist vom Außen absorbiert, denn darüber wird unsere Identität, unser Wert, unsere Daseinsberechtigung in der Welt festgesetzt. Hochsensibel entwickeln wir Antennen als Kind, was unser Außen von uns will. Dem fügen wir uns. Dahin trachten wir uns selbst zu formen, zu entwickeln, zu werden. Wo es nicht gelingt, weil es nicht „geht“ – und das ist der überwiegende Seins-Zustand – tun wir zumindest, „als ob“. Wir tun so, „als ob“ wir so wären, wie wir meinen, sein zu sollen, zu müssen. Mit dem Innen müssen wir irgendwie und so gut wie möglich leben, mit allen Qualen der unzureichenden Selbstorganisation. Denn es darf keiner wissen, was in unserem Innen ist. Möglichst wir selbst auch nicht. Das Innen gilt es zu verbergen, als sei es das Fehlerhafte, das Nicht-Gewollte, das Nicht-Passende. Diese beiden Welten erleben wir als voneinander getrennt. In den meisten menschlichen Kontakten verhalten wir uns infolgedessen so, als gäbe es nur unser Außen, als gäbe es nur das Außen des anderen Menschen. Ein Außen kontaktiert ein anderes Außen. Das Erleben des Getrennt-Seins wird dadurch bei jedem Kontakt validiert und verstärkt. Mit der Außenorientierung bilden wir ein sich selbst verstärkendes System der illusionären Trennung.
Dieses sich selbst verstärkende Trennungserleben verwirklicht sich in vielen menschlichen Kontakten. Besonders tiefgreifend wirkt es sich im Umgang mit unseren körperlichen Erfahrungen aus, in unseren sexuellen Begegnungen. Wir sind mit unseren Körpern in ihrer Nacktheit ungeschützt. Auch auf seelischer Ebene sind wir in unseren sexuellen Begegnungen – relativ betrachtet zu Alltagsbegegnungen – ungeschützt. Auch auf seelischer Ebene sind wir hier nackt. Erleben wir uns bei unseren sexuellen Begegnungen getrennt, schmerzt das besonders, eben weil wir „nackt“ sind, verletzbar. Wir frieren ohne Nähe. Die Sehnsucht nach Nähe in der Begegnung weist uns hin auf unser Bedürfnis nach tiefem Kontakt, nach verbundenem Kontakt im Innen und im Außen. Körper und Herz, Leib und Seele. Wir sehnen uns in der Liebe nach dem Erleben der Verbundenheit, nicht nach Trennung. Wenn nun auch und gerade in der sexuellen Begegnung Trennung erfahren wird, schwindet die letzte Hoffnung. Dann wird das Befürchtete wohl doch stimmen? Dann gibt es wohl doch nur Getrennt-Sein? Verbundenheit, die illusionäre Hoffnung von Träumern, Fantasten und Romantikern?
Schon als kleines Kind lebte ich sehr sicher in meinen inneren Welten. Ich war in gutem Kontakt mit meinen inneren Räumen. Ich verstand sie nicht. Ich „wusste“ nicht, was ich dort erlebte. Ich „erlebte“ einfach. Manchmal erlitt ich einfach nur. „Da“ waren sie schon immer, diese vielen inneren Räume, so weit meine Erinnerung reicht und weiter noch, früher noch, ungedacht, unerinnert. Ich erlebte die Welt klar abgegrenzt in Innen und Außen. Es gab meine innere Welt, in der ich mit mir und allem, was dort war, alleine lebte – und es gab die äußere Welt, in der die anderen Menschen lebten, zu denen ich irgendwie gehörte – doch eigentlich nicht wirklich. Irgendwie gehörte ich nicht zu diesen Menschen. Es schien mir schon als kleines Kind in gewisser Hinsicht wie ein Irrtum, dass ich war, wo ich war und wie ich war. Manche Geschehnisse im Außen hatten eine Entsprechung in meinem Innen. Es gab für mich eine Außen-Erfahrung und eine zugehörige Innen-Erfahrung. Aus meinem Innen konnte ich in das Innen anderer Menschen hineinschauen, ich konnte zum Beispiel ihren Schmerz „sehen“, auch wenn sie lachten oder schwiegen oder „böse“ waren. Das ging ganz einfach, durch die Außenhaut hindurch, direkt bis ins Herz hinein. Eine sehr frühe Kindheitserinnerung. Es war normal für mich. Irgendwann begann in mir zögerlich eine Frage zu entstehen: Wenn ich die innere Not der anderen sehe, warum sieht dann offenbar keiner meine? Nicht oft tauchte diese Frage auf. Meine simple Antwort – eher ein Rückschluss: Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin anders.
Die Trennung ist eine Illusion
Das Erkennen, dass alle Welten, außen wie innen, eine einzige Welt sind, ist ein unsägliches Glück. Ein Glück so groß, dass es nicht zu sagen ist. Trennung ist eine Illusion. Es sind einfach verschiedene Ebenen, Dimensionen, Qualitäten, Erscheinungsformen, Arten des Seins. Es ist ein Sein. Die Trennung existiert nur durch unser sich als getrennt erlebendes Bewusstsein. Sie existiert nicht an sich. Sie ist ein Trugbild. Je fester wir ihr anhängen, umso fester gestaltet sie sich in uns und zwischen uns. So fest, dass wir schon fast wieder alle verbunden sind durch das gemeinsame Erleben der illusionären Trennung. Verbunden sind wir durch unsere Innenwelten, verbunden sind wir ebenso durch unsere Außenwelten, verbunden sind wir durch unser Ringen und Suchen nach Verbindung. Wir alle tun alles so gut, wie wir können. Könnten wir es besser, wir täten es. Jeder Mensch. Das, was an Verbindungs-Erleben nicht möglich ist, ist im Moment nicht möglich. Wäre es jetzt möglich, wäre es schon.
Wir erleben unterschiedlich. Auch das ist unser Gemeinsames. Wir erleben in einer uns eigenen und unverwechselbaren Qualität. Das ist unser Verbindendes. Wir sind in je einzigartiger Weise Menschen mit unserem je ganz eigenen Weg und Werden. Das teilen wir mit allen anderen Wesen und Wegen. Wir sind eine Botschaft. Jeder Mensch ist seine eigene Botschaft. Das ist das Eine, in dem wir sind, durch das wir sind, das wir sind. Wir sind. – Unser ganz eigenes und einzigartiges „Ich bin“ ist und wird erst durch das „Du bist“ zugleich eigen und gemeinsam. Ohne ein „Ich bin“ gibt es kein „Du bist“. Ohne ein „Du“ bin ich kein „Ich“. Weil das „Ich“ und das „Du“ eines sind. Im Erleben der Gleichzeitigkeit, der Nicht-Zeitigkeit, der Ewigkeit des „Ich“ im und erst durch das „Du“ löst sich jede Trennung auf. Leicht. Sanft. Wie der weichende Atem sanft. Wie das Ausatmen im Sterben. Vielleicht löst sich erst mit unserem letzten weichenden Atemzug die Trennung vollständig auf. Vielleicht sind wir schon vom ersten Atemzug an verbunden mit der gänzlichen Auflösung dieses nur vorübergehenden Trennungserlebens. Behutsam, mit jedem Atemzug. Vielleicht ist das Gegenwärtigsein des Todes deshalb so bedeutsam für ein lebendiges Leben. Weil wir erst durch das Hineinnehmen des Todes, als Realität des letzten weichenden Atemzuges, als Vollzug der letzten sich auflösenden Erfahrung des Getrenntseins, die Verbindung in ihrer Fülle hier im Leben erleben können. Mit jedem Atemzug, der durch uns kommt. Mit jedem Atemzug, der durch uns geht.
DER ERSTE FREIER
„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? – Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.“
(1 Kor 3, 16)
Zeitsprung
Es fällt mir auch jetzt noch, im sechsten Lebensjahrzehnt, nicht leicht, mich bei einem Arzt auszuziehen. Ich bin in letzter Zeit, dem zunehmenden Alter geschuldet, häufig bei verschiedenen Ärztinnen und Ärzten. Ich suche sie aus nach der Kompetenz, die ich ihnen zuspreche, oder weil sie mir aus erlauchtem Munde empfohlen werden, nicht nach Geschlecht. Wenn es dann ein Mann ist, fällt mir das Ausziehen schwer. Ich muss es bewusst tun und muss mich daran erinnern, warum ich mich dazu entscheide. Obwohl ich schon so alt geworden bin, obwohl ich deutlich spüren kann, dass der Arzt meinen Körper als den Körper einer Patientin ansieht und untersucht, nicht als jenen einer Frau. Diese Scham erlebe ich wie einen Schutz um mich herum. Meine Scham hilft mir, mich zu schützen. Es mag irrational sein. Es mag unverständlich sein. Wieso kann ich denn da nicht einfach „drüber“ stehen? Weil ich mich schäme! Und weil ich froh bin, dass ich mich schämen kann. Wieder schämen kann. Denn meine Scham war in früheren Zeiten wie zerstört. Es hat lange gedauert, bis sie wieder gewachsen ist, bis sie ihren Weg zurück zu mir gefunden hat. Und nun passe ich gut auf sie auf.
Ich mag keine FKK-Strände, und in die Sauna gehe ich entweder am Damentag oder ich lege mein Handtuch erst in der dunklen Sauna ab. Ich wähle aus, wen ich meinen Körper sehen lasse. Es ist mir eine intime und private Angelegenheit. Ich bin scheu. Nackt kann ich gut sein bei dem Mann, den ich liebe, bei meinen Kindern, bei meinen besten Freundinnen, bei einer Ärztin. Alles andere ist für mich schwierig, und im Grunde mag ich es nicht.
Neulich sitze ich mit einem guten Freund im Café zum mittäglichen Brunch. Wir haben viel Zeit, genießen das Beisammensein und das köstliche Mahl. Wir reden über Gott und die Welt im Wortsinne, und plötzlich kommen wir auf eine spinnerte Idee: Wofür würden wir uns jetzt hier im vollbesetzten Café vor aller Augen ausziehen und nackt auf den Tisch setzen? Geld als Anreiz ausgeschlossen, zu langweilig. Was müsste geschehen, dass wir das jetzt und hier täten? Welche