Körper sucht Seele. Anna Schreiber

Körper sucht Seele - Anna Schreiber


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Ideen, die uns einfallen, eben keinen hinreichenden Anreiz bieten. Das Gespräch wird ernst. Was am Ende bleibt, ist: Wenn wir mit dieser Aktion eines Menschen Leben retten müssten und könnten, dann zögen wir uns hier und jetzt auf dem Tisch vor aller Augen nackt aus. Oder: Wenn wir damit verhindern könnten, dass ein von uns geliebter Mensch weggehen muss, weit weg, ohne von uns weg zu wollen. Oder wenn wir einen geliebten Menschen befreien könnten damit. Alles andere ist zu schwach. Alles andere wäre schwächer als die starke Scham, sich in der Öffentlichkeit den Augen aller nackt auszusetzen.

      Wie uns zum Nachtisch Death-by-Chocolate serviert wird – ein Schokoladenkuchen, der nur so und keinesfalls anders heißen kann –, fühle ich mich fast ein wenig heroisch. Um eines Menschen Leben zu retten oder um mich für einen geliebten Menschen einzusetzen, sonst nicht! Wie kostbar, diese Scham zu haben, dass ich es für nichts weniger täte. Und wie kostbar, diese Freiheit zu haben, dass ich es für dieses Eine, ohne mit einer Wimper zu zucken, täte! Sofort und gleich jetzt.

      Ich ging in die Stadt. Meine Idee war, dass rote Stiefel angemessen seien. Ich kaufte mir rote Stiefel, halbhoch, Investition mit Absatz. Irgendwie sahen sie schon „nuttig“ aus. Ich trug dazu ein eng anliegendes rotes Kleid. Ich war zufrieden mit mir, setzte mich in ein Café, um meine neuen Stiefel einzuweihen. Ich saß und sinnierte, was diese Stiefel mit mir machen. Mir fiel ein Mann auf, Mitte vierzig, der etwas zu oft an mir vorbeiging, mich ansah, als suchte er etwas an mir. Als hätte er eine Frage. Ich lächelte ein wenig, als wüsste ich, was ich nicht tat in diesem Moment. „Ich bin ab jetzt unterwegs in Sachen Sex gegen Geld“, dachte ich mir. Ich hatte die Anzeige ja schon aufgegeben. Da konnte ich doch gefahrlos mit meinem roten Schuhwerk fremde Männer anlächeln. Mein wissendes Lächeln war für ihn offensichtlich eine Antwort auf die mir unbekannte Frage. Er setzte sich an meinen Tisch. Ich hielt den Blickkontakt. Alles, was gerade geschah, war mir unbekannt. Was weiß er, was ich nicht weiß? Welche Selbstverständlichkeit geschieht gerade? Mein Raum- und Zeiterleben setzte wieder ein, als ich hörte, wie er mich ansprach. Was es kostet bei mir? Einfach so fragte er. Ohne Einleitung, ohne Überleitung. Darauf war ich nicht gefasst. Er fragte interessiert. Seine Frage hatte nichts Unsicheres, auch nichts Beleidigendes. Er rechnete offensichtlich nicht damit, dass ich entrüstet oder empört reagierte. Er erwartete ganz einfach eine Antwort. Was geschah hier, und wieso ging alles plötzlich so schnell? Etwas in mir navigierte wie auf Autopilot. Etwas außerhalb von mir sehe ich mir staunend zu. Ich sehe eine junge, aufreizend gekleidete Frau mit roten Stiefeln an einem Tisch in einem Café sitzen. Umgeben von anderen Tischen, Torten, Menschen. Sie blickt einen Mann, der an ihrem Tisch sitzt, direkt an. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie, trägt einen Anzug, Krawatte. Sie blickt souverän, ruhig, sicher. Sie nimmt ihre Tasse in die Hand, führt sie zum Mund, trinkt, über den Tassenrand hinweg hebt sie ihre Augen: „Das kommt darauf an, was du haben möchtest.“ Warum duze ich diesen fremden Mann plötzlich? Er antwortet so selbstverständlich, als kennten wir uns und hätten dieses Gespräch schon viele Male geführt. Hat er wahrscheinlich auch, nur nicht mit mir. Und da er nicht mich meint, da ich in diesem Szenario austauschbar bin, ist ihm die Konversationsfolge vertraut. Wir könnten mit seinem Auto auf einen Parkplatz fahren, und ich könnte ihn „verwöhnen“, meint er süffisant. Was das kostet? Fünfzig Mark, sagt die Frau mit den roten Stiefeln – so ins Blaue hinein. Er ist sofort einverstanden. Sie zahlt ihren Kaffee, beide stehen auf, gehen hinaus und die Straße entlang, bar jeder Angst steigt sie in seinen Wagen. Sie fahren auf einen ihm offensichtlich bekannten, abgelegenen Parkplatz, er gibt ihr fünfzig Mark, sie „verrichtet“ die Dinge, er fährt sie zurück in die Stadt. – Es gab nun diese souveräne Frau mit den roten Stiefeln. Sie wusste, was zu tun, was zu sprechen, wie sich zu bewegen. Und mich gab es auch noch. Nur verstand ich nichts. Ich fühlte auch nicht. Ich befand mich in einem unwirklichen Nebel. In diesem Nebel gab es mich und gab es diese Frau mit den roten Stiefeln, und wir gehörten irgendwie und nebelartig zusammen.

      Ich fahre nach Hause, betrunken vom Nebel. Die fünfzig Mark wie eine Trophäe vor mir herschwenkend gehe ich auf unsere Eingangstür zu, stolz mit meinen roten Stiefeln. Ein Strahlen. Ich erzähle ihm alles, von Anfang bis Ende. Frage mich, warum ich dem Drängen nachgebe – Anerkennung, Lob. Gerne gebe ich die fünfzig Mark her. Merkwürdigerweise fühlt es sich an, als wäre es richtig, dass ich das Geld, das ich verdient habe, aushändige. Die Frau mit den roten Stiefeln ist sehr zufrieden mit sich. Ich bin in diesem Moment nicht dabei. Ein Verrat. Ein Verrat an der Liebe.

      In den nächsten Tagen treffen die ersten Briefe auf meine Anzeige ein. Ich finde sie in meinem Postfach, das ich eigens dafür bei der Dorfpost eingerichtet habe. Nette und freundliche Briefe, ausführlich, zum Teil persönlich, zum Teil kurz und pragmatisch. Obszöne Briefe, oft mit beigelegtem Foto eines männlichen Gemächts und ausufernden Beschreibungen der eigenen Potenz, einer Hengstschau ähnlich. Aus den Briefen wird sofort deutlich, ob das Hauptaugenmerk des solventen Herren auf Sex „ohne viel drum herum“ liegt oder eher auf einem Treffen „mit viel drum herum“. Auf welche Briefe ich antworte, sortiere ich nach den Kriterien Schreibstil und Anstand. Dies scheinen mir valide Kriterien zu sein. Das Zeitalter der Mobiltelefone war damals noch nicht angebrochen. So wurde meist eine Telefonnummer angegeben zusammen mit einer Zeitspanne, innerhalb derer ich anrufen könne. Manche Männer baten um Kontakt über eine Postfachadresse. Das waren die, die „viel drum herum“ wollten.

      Mein erstes Treffen mit einem Mann, zu dem der Kontakt über die Zeitungsanzeige hergestellt wurde, findet in seinem Büro statt. Er hat mir einen höflichen und klaren Brief geschrieben, mit Namen, seinem Alter und seiner Büroadresse. Er sei an einem Treffen mit mir sehr interessiert, er wisse mein „Entgegenkommen“ wohl zu honorieren, Terminvorschlag. Ich ziehe meine roten Stiefel an. Zum Abschied daheim bekomme ich aufmunternde Worte und sehe in leuchtende Augen. Das Büro des Mannes ist im Tiefparterre gelegen, ein großer, nüchtern eingerichteter Raum, Grau die vorherrschende Farbe, kühl, dunkel in meiner Erinnerung. So aufgeregt wie ich bin, so ruhig ist er. Es ist ein Geschäftstreffen, für das er, im Gegensatz zu mir, eine Agenda hat. Er unterbreitet mir seinen Plan, den ich zunächst nicht verstehe. Da ich zu diesem Zeitpunkt in den Gepflogenheiten dieses Gewerbes unbedarft bin, braucht mein Gehirn erstaunlich lange, bis es versteht, welchen Deal er mir unterbreitet. In meiner Vorstellung geht es jetzt darum, dass wir Sex haben und er mir dafür Geld gibt. Sein Plan ist jedoch etwas komplexer: Es soll schon um Sex gegen Geld gehen, doch darüber hinaus auch um eine Weitervermittlung. Er will Sex mit mir, und er will mich vermitteln. Es gebe eine Frau in örtlicher Nähe, die nette Damen wie mich vermittle an nette Herren wie ihn. Da er dieser Dame sehr zugetan sei – sie sei nämlich eine besonders nette Dame –, vermittle er ihr gerne neue nette Damen – wie mich jetzt –, wenn ich zustimme. Darüber freue sich die nette Dame und stelle ihm als Gegenleistung hin und wieder eine nette Dame – kostenfrei – zur Verfügung. Für mich sei es sehr praktisch, diese nette Dame kennenzulernen, denn diese könne im Gegenzug mir den Kontakt zu netten Herrn – wie ihm – vermitteln. Wie sollte ich als nette Anfänger-Dame – woher weiß er das? – denn sonst so leicht an nette Herren – wie ihn – herankommen? Damit er (als netter Herr) mir (als netter Dame) den Kontakt zu der besonders netten Dame herstellen könnte, müsste ich (als nette Dame) mit ihm (als nettem Herrn) jetzt und hier Sex haben. Ich bekäme dafür jedoch kein Geld. Was er mir statt des Geldes gäbe, sei der Kontakt zur netten Dame, und zwar sofort danach. Diese habe sofort nachher schon einen anderen netten Herrn für mich, von dem ich Geld für Sex bekäme, wovon ich der netten Dame sicher gerne ein Drittel für die Vermittlung abträte. – So weit der Plan. Mein Gehirn arbeitet. Mein Gehirn rechnet. Meinem Gehirn scheint das ein guter Deal. Ich stimme zu.

      Der Sex ist kurz und wie abgezirkelt, jede Bewegung bemessen. Er weiß genau, was er wie will. Ich bin verwundert, wie selbstverständlich er mit meinem Körper umgeht. Er kennt mich doch gar nicht. Was er kennt, was sein selbstverständliches Gebaren und seinen ungehemmten Umgang mit meinem Körper erklärt, ist, dass er im Gegensatz zu mir mit dem Setting vertraut ist. Er ist es gewohnt, mit einer Prostituierten Sex zu haben. Da er nicht mich meint, hat er auch keine Hemmungen. Er meint die Prostituierte. Mit der, in Stellvertretung für alle, ist er vertraut. Es wird eine emotionslose


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