Körper sucht Seele. Anna Schreiber
Wie wird jemand eine „Käufliche“? – Nein, nicht in Selbstbestimmung und in freier Berufswahl. Sie hat keine Wahl. Sie hat einen Mann, den sie für ihren Retter hält und wirklich liebt und der sie doch nur schamlos ausnutzt, sie hat ein Kind, für das sie sorgen muss und dem sie niemals sagen kann, womit sie ihren Unterhalt verdient. Auch sie betrügt sich selbst. Auch sie ist eine innerlich wie äußerlich Getriebene. Wie hält sie durch, wenn sie sich hinhält?
Sie muss ihre Gefühle abspalten, sie muss darstellen und sein, was sie weder empfindet noch ist, sie muss ihre Seele aus dem Körper zurückziehen, bis er nur noch seelenlos bedienbar und bespielbar wird. In einer Berufsausübung ohne Berufung, in der ständig von Liebe die Rede ist, darf die Berufsausübende keinerlei Liebe mehr verspüren – es brächte sie um; denn es holte ihre Seele zurück, es brächte ihre Persönlichkeit wieder zum Vorschein. Das darf nicht sein, wenn es weitergehen soll. Nur: es geht nicht weiter.
Irgendwann wird der Ekel vor der Berührung, die keine ist, nur eine mit Geld kaschierte Gewalt, bis in die Symptombildungen des Körpers hinein unüberwindbar. Anna Schreiber hat dieses Gefühl immer höher getrieben und immer mehr an den Rand; um nicht mehr angefasst zu werden, floh sie als „Tänzerin“ auf die Bühne und als „Unterhalterin“ ins Séparée; schließlich wurde sie „Domina“, um Menschen zu beherrschen, die sie zur Sklavin der eigenen Selbstversklavung machten.
Es ist, als wenn die Wände der Seele durch den Druck ständiger Dissoziationen immer weiter auseinandergepresst würden und dazwischen ein Vakuum sich bildete, das keine Luft zum Atmen mehr enthält. Was rettet vor dem langsamen Ersticken?
Eigentlich nur dies: die Wahrheit und die Liebe. Doch wie kann man sie glauben in einer Welt der Lüge und Lieblosigkeit?
Was dieses Buch so faszinierend und in eigentlichem Wortsinne notwendig macht, ist das Verstehen, das es als Leitmotiv durchzieht. All das als unheilvoll Erlebte fügt sich zusammen, heilt und reift hindurch zu seiner Schönheit, Selbstachtung und Güte, weil es in allem und trotz allem niemals auch nur im Ansatz darum geht, in Klagen und Anklagen zu versinken. Es geht um Begreifen und Durcharbeiten, nicht um Urteilen und Verurteilen, um Wertungen und Abwertungen, um Anwürfe und Vorwürfe. Wohl: „Männer machen Prostituierte“, doch was machen Frauen mit Männern?
Statt zum „Kampf der Geschlechter“ aufzurufen, bestimmt dieses Buch die Einsicht, dass Männer und Frauen gerade infolge ihrer Unterschiedenheit einander brauchen, um sich zu ihrer Einheit zu ergänzen. Nicht von Schuld ist die Rede, sondern von Not, von Ausweglosigkeit, von Tragik und Verzweiflung. Es ist eine Ebene der Betrachtung, die das moralisierende Naserümpfen ebenso hinter sich lässt wie die gesellschaftliche Heuchelei mit ihrem Bestreben, die Urstromtäler der Liebe in ein gesetzlich geregeltes Kanalsystem für leistungsüberfrachtete Lastkähne zu verwandeln. Heilung ist nur möglich durch vorurteilsfreies Akzeptieren. Wer wüsste, wer benötigte das nicht so sehr wie jemand, der vollkommen draußen steht – außerhalb seiner selbst, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Gemeinsamkeit, die er, wie jeder, braucht zum Leben?
Mit Absicht führt das Buch hin zu der Szene im Johannesevangelium, da die Schriftgelehrten eine Ehebrecherin zu Jesus bringen, die sie auf frischer Tat ertappt haben – ihre Schuld ist erwiesen, und nach Maßgabe des Gesetzes gehört sie dafür getötet durch Steinigung. So soll denn doch derart verfahren, meint Jesus, wer selber ohne Schuld erfunden wird. Wir alle leben nur, weil uns vergeben wird, doch selber können wir nur vergeben, wenn wir beginnen zu verstehen.
Dafür wirbt nicht dieses Buch, davon ist es überzeugt und davon überzeugt es jeden, der es liest. Man kann nur wünschen, dass es viele sind. Denn es umgeht die falschen politischen Fragestellungen: Soll man Prostitution als ein normales Gewerbe freigeben oder als Straftat kriminalisieren? Wer begreift, wovon er beim Wort Prostitution spricht, kann nur wünschen zu helfen, und Gesetze können nicht heilen, Verordnungen nicht das Herz eines Menschen ordnen; helfend und heilend ist einzig die Liebe.
Weil es eine Hymne ist auf die Liebe, gehört dieses Buch in die Hand so mancher Frau, die sich von ihrem Mann betrogen sieht, so manchen Mannes, der sich mit seiner Frau nicht mehr versteht, so manchen Mädchens, das inmitten seines Elternhauses sich verwaist und heimatlos vorkommt, so manches Jungen, der in den Pornodarstellungen auf seinem Handy Lust und Befriedigung zu finden hofft.
Es ist ein Buch, ergreifend subjektiv geschrieben, und doch gerade deshalb allgemeingültig in seiner objektiven Wahrheit. Es destilliert aus einem Meer von Leid das Heilmittel der Liebe, und das in einer feinen, scharfsinnigen, nie sentimentalen, doch emotional dichten Sprache. In den „Sachbüchern“ sonst läse man Auswertungen von Statistiken des Sexualverhaltens bei Menschen und Primaten, erführe etwas vom neuesten Stand der neurobiologischen Forschungen über die Ausschüttungen von Hormonen und die Wirkungsweise bestimmter Hirnareale – man lernte da manches; hier von alledem nichts. Hier lernt man der Sehnsucht zu folgen. Hier lernt man dem eigenen Herzen zu glauben. Hier lernt man zu lieben. Es ist kein Sachbuch. Denn Menschen, Gott sei Dank, sind nicht mehr länger Sachen.
Dr. Eugen Drewermann
Theologe und PsychotherapeutPaderborn, im Juni 2018
Vorwort
Es gibt immer ein Vorher.
Vor dem Anfang gibt es ein Vorher.
Jede Geschichte hat ein Davor.
Keine Frau kommt als Prostituierte auf die Welt.
In diesem Buch berichte ich über eine Zeit vor mehr als drei Jahrzehnten, in der ich als Prostituierte gearbeitet habe, und darüber, wie ich heute – im Alter von siebenundfünfzig Jahren – diese Zeit sehe. Ich beschreibe, wie ich sie im Inneren und im Äußeren erlebt habe. Ich versuche die Mechanismen und verdeckten Dynamiken der Prostitution verständlich zu machen, nicht nur theoretisch, sondern an einem konkreten – an meinem – Leben.
Jede Prostituierte hat eine Geschichte, wie sie zur Prostitution gekommen ist. Bei vielen Frauen gibt es eine direkte, unmittelbar der Prostitution vorausgehende Gewalt: Die Frau wird vergewaltigt und danach zur Prostitution gezwungen. Hier scheint es auf den ersten Blick klar, dass Männer Prostituierte „machen“, denn die Gewalt und der Zwang sind offensichtlich. Anders ist es bei Frauen, die sich vermeintlich freiwillig prostituieren. Hier ist kein Mann sichtbar, der sie zwingt, keiner hat ihnen die Ausweispapiere weggenommen. Sie könnten einfach weggehen, könnten jederzeit aufhören. Wie kommt eine solche Frau also dazu, sich zu prostituieren?
Prostitution ist Not und Schicksal.
Prostituierte werden „gemacht“ – durch Männer. Wenn wir die Not der Prostituierten lindern wollen, müssen wir uns auch mit der Not derer befassen, die diese Not verursachen: mit der Not der Männer.
Heute arbeite ich als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, bin glücklich verheiratet, vielfache Großmutter, die beiden zauberhaften Töchter erwachsen. Seit Jahren erlebe ich bei meinen Klientinnen und Klienten so oft, wie weit verzweigt die Wirkungen und Auswirkungen von Prostitution reichen können. Dass es mir nach meiner Zeit in diesem Gewerbe vergönnt war, einen neuen Weg einzuschlagen, hätte ich mir in der Prostitutionszeit nicht mal wünschen können. Damals sah ich eine Zukunft, in der ich spätestens Mitte dreißig auf einem Bahnhofsklo krepiere.
Mein Weg nach der Prostitution führte mich, mit Umwegen und langer eigener Therapie, schließlich zum Psychologiestudium mit akademischem Abschluss. Viele Jahre habe ich als systemische Paartherapeutin gearbeitet, nach einem weiteren Studium wurde mir die ärztliche Approbation verliehen. Seit langem ist mein Lebensrhythmus geprägt von täglicher Zen-Praxis.
Wie alles begann
„Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.“
Khalil Gibran
Ich wurde mir fremd. Ich wurde mir neu. Ich wurde mir unwirklich. Es war zu spät. Ich gab die Anzeige auf: „Langhaarige Studentin, 20, sucht solventen Herrn.“ Der letzte Schritt vor dem Rubikon. Dass ich mich auch noch zwei Jahre jünger gemacht hatte, spielte jetzt keine Rolle mehr. In den letzten Tagen war mir immer mulmiger geworden. Vor meiner eigenen Courage war ich erschreckt. Jetzt noch