Prozesspsychologie. Jörg Heidig
Analysiert man das Geschehen in Unternehmen und Organisationen, so wird man zunächst zwei ›Bühnen‹ vorfinden. Auf der ersten, sichtbaren Bühne findet das beobachtbare, quasi offizielle Geschehen statt. Auf der zweiten, unsichtbaren Bühne findet der informelle, deshalb aber nicht weniger wirksame Teil des Geschehens statt. So mag zum Beispiel ›Sagen‹ und ›Tun‹ bei einigen Personen weit auseinander liegen, aber es ist nicht möglich oder statthaft, dies anzusprechen. Geschieht es – wie zuweilen im Falle neuer, noch nicht an die Routinen und ungeschriebenen Gesetze der unsichtbaren Bühne gewöhnten Mitarbeiter – dennoch, so lernen die Betreffenden schnell, was man sagen darf und was nicht.
An sich ist das ganz normal: Sobald Menschen zusammenkommen und miteinander arbeiten, bilden sich Verhaltensmuster und Regeln heraus, die sich mit der Zeit festigen und zur Gewohnheit werden. Die zwangsläufigen Diskrepanzen zwischen individuellem Wollen und den Routinen und Gesetzen der Gemeinschaft führen zur Existenz der beiden Bühnen. Grob gesagt: Das (Arbeits-)Leben ist ein Rollenspiel.
Im regulären Arbeitsalltag ist es weder sinnvoll noch notwendig, die strategischen Verhaltensweisen und etablierten Rollenspiele der ersten Bühne stören oder gar verändern zu wollen. Anders ist das jedoch, wenn sich mit den Jahren die Rollen so verfestigen, dass mit externen Veränderungserfordernissen (neue Produkte, veränderte Kundenwünsche) oder internen Impulsen (Vorschläge, Lernen aus Fehlern) nicht mehr adäquat umgegangen werden kann.
Ein beinahe klassisches Beispiel
Die Produktentwicklungsabteilung eines mittelständischen Unternehmens wird im Zuge starken Wachstums vergrößert und erhält einen neuen Chef. In den ersten Jahren entwickelt die Abteilung immer wieder neue Konzepte und trägt wesentlich zum Wachstum bei. Dann festigen sich die Kundenbeziehungen und man beginnt, mehr auf Kundenwünsche zu reagieren als aktiv den Markt mit neuen Ideen zu gestalten. Nach einigen weiteren Jahren verändert sich der Markt, und Wachstumspotenziale sind nicht mehr bei den etablierten Kunden, sondern in einer Branche zu erkennen, mit der das Unternehmen noch keine Erfahrungen hat. Der Geschäftsführer weist in strategischen Runden immer wieder auf das neue Potenzial hin, doch es passiert wenig. Nach einem weiteren Jahr wird eine Person angestellt und als Stabsstelle direkt an der Geschäftsleitung angebunden, die sich mit der avisierten Wachstumsbranche auskennt und die entsprechenden Aktivitäten nun als ›Projekt‹ aufbaut. Die Schwierigkeiten mit der etablierten Abteilung und insbesondere mit dem Leiter sind zwar vorprogrammiert, werden aber vom Geschäftsführer wissend in Kauf genommen.
Ein solcher Ansatz, im Problemfall ›Bypässe‹ zu legen, kann funktionieren; oft genug tut er das jedoch nicht. In jedem Fall kommt es zu einer Vergrößerung der Diskrepanzen zwischen der ersten Bühne (was ist erlaubt zu sagen) und der zweiten Bühne (was möchte man eigentlich erreichen). Und an solchen Stellen ist es notwendig, das Geschehen auf der zweiten Bühne – zumeist geht es da um Ängste oder die Folgen von Angst, also um Gewinnen oder Verlieren – ansprechbar zu machen. Werden Interventionen notwendig, müssen also ›Tun‹ und ›Sagen‹, zumindest vorübergehend, zusammenfinden.
In der Realität von Unternehmensveränderungen wird die zweite (verdeckte oder informelle) Bühne häufig ausgeblendet oder ihre Existenz wird schlicht verneint. Darin liegt die Ursache, warum viele Veränderungsvorhaben an den menschlichen Faktoren scheitern. Doch ganz gleich, ob der Veränderungsimpuls durch – was weit häufiger der Fall ist – technische oder – was die selteneren Anlässe sind – zwischenmenschliche Probleme ausgelöst wurde: Beide Faktoren beeinflussen sich gegenseitig.
Wird beispielsweise eine neue Software eingeführt, so ist dies nicht nur eine technische Herausforderung. Nach unserer Erfahrung ist die technische Seite die leichter umsetzbare. Komplizierter wird es bereits bei der Analyse der Auswirkungen der neuen Software auf die unternehmensinternen und -externen Prozesse bzw. beim Design der entsprechenden Prozessanpassungen. Die dritte und höchste Hürde bilden erfahrungsgemäß die menschlichen Faktoren: Die individuelle Motivation, die neue Software zu benutzen oder die Dynamik von Widerständen, etwa in Form kollektiver Ablehnung der Software in Teams oder ganzen Abteilungen, haben entscheidenden Einfluss auf den Erfolg eines solchen Projekts.
Unsere Schlussfolgerung aus den bisherigen Darstellungen lautet deshalb: Technische, betriebswirtschaftliche und menschliche Belange stehen in unmittelbarer Wechselwirkung und müssen integriert betrachtet werden. Veränderungsvorhaben sind, so technisch oder ›zahlenlastig‹ ihr Anlass auch sein mag, immer auch Organisationsentwicklungsprojekte. Und Organisationsentwicklungsprojekte haben immer auch einen Einfluss auf die technischen und betriebswirtschaftlichen Kenngrößen. In der Regel sind die Abläufe und die menschlichen Faktoren zusammenhängend betroffen. Eine Trennung der Dimensionen in Abhängigkeit vom Auslöser gibt es nicht. Es braucht Menschen, die als Führungskräfte in der Lage sind, die beschriebene ›Nichttrennbarkeit‹ zu erkennen und ethisch bzw. vorbildhaft zu führen. Diese Sichtweise ist im Grunde nicht neu – es sei stellvertretend auf den soziotechnischen Ansatz verwiesen –, jedoch haben sich die Lösungsansätze für betriebswirtschaftliche und technische Fragestellungen einerseits und für die menschlichen Facetten organisationaler Veränderungen andererseits in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend getrennt voneinander entwickelt und sich dementsprechend immer weiter voneinander entfernt. Angesichts der Komplexität heutiger Unternehmenslagen erscheinen integrierte bzw. interdisziplinäre Betrachtungen zwar dringend geboten, ein Blick in die Fachdisziplinen legt jedoch die Vermutung nahe, dass dies derzeit kaum versucht wird (vgl. Halek 2012; Heidig 2012). Das möchten wir ändern, indem wir die zu bearbeitenden fachlichen Belange mit den Arbeitsabläufen, den menschlichen Faktoren sowie den Führungshaltungen und Wertvorstellungen im Zusammenhang betrachten.
Die aktuellen Modelle und ihre Grenzen
Erster Kritikpunkt:
Veränderung wird nicht als Daueraufgabe gesehen
Unterzieht man die gängigen Vorstellungen von Veränderungen in Unternehmen und Organisationen einer genaueren Analyse, so fällt Folgendes auf: Die meisten Modelle gehen davon aus, dass die Zustände vor und nach einer Veränderung stabil sind. Veränderung stellt demnach eine Ausnahme dar, und so dienen theoretische und praktische Betrachtungen üblicherweise der Suche nach Handlungsstrategien unter den besonderen Umständen des Wandels. Viele Autoren verweisen bei der Thematisierung von Veränderungen auf Lewins Dreischritt »Auftauen – Verändern – Stabilisieren« – eine Vorstellung, die davon ausgeht, dass Strukturen mit dem Ziel der Veränderung zunächst gelockert, dann verändert und schließlich wieder »eingefroren« werden müssen. (Vgl. Lewin 1947; für eine ausführlichere Darstellung des Dreischritts siehe Kritsonis 2004, S. 1 f. oder Rechtien 1999, S. 161 ff.)
Aber ist dem tatsächlich so? Ist Veränderung nicht eher der Normalzustand, sind Organisationen nicht – zumindest über längere Zeiträume betrachtet – im Fluss? Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass es keine dauerhaft erfolgreichen Strukturen gibt. Zwar gibt es immer wieder Rankings erfolgreicher oder gar bester Unternehmen, aber diese best practice ist zumeist nur von kurzer Dauer – zumindest gehören viele der Top-Unternehmen einige Jahre nach dem Zeitpunkt der Messung nicht mehr zur Spitzenkategorie (vgl. Chia & Holt 2011; Harford 2011). Organisationen erscheinen so als vorübergehend erfolgreiche Anpassungen an eine sich stetig verändernde Umwelt. Betrachtet man die Vorgänge in Organisationen als permanenten Entwicklungsprozess, so erscheinen Organisationen eher als Versuche, der dauernden Veränderung für eine Weile Einhalt zu gebieten und dem Status Quo Stabilität zu verleihen. Diese Sichtweise hat gravierende Konsequenzen für den Umgang mit Veränderungen: Während man nach dem herkömmlichen Verständnis ›Stabilität als Normalzustand / Wandel als Ausnahme‹ bewusst auf einen Zielzustand zusteuert und entsprechende Schritte einleitet, impliziert die Vorstellung ›Wandel als Normalzustand / Stabilität als Ausnahme‹ eher eine Lockerung der Zügel des Managements mit dem Ziel, den außerhalb sowieso stattfindenden Wandel auch innerhalb des Unternehmens zuzulassen. Anpassungen und Innovationen geschehen demnach – konsequent weitergedacht – gleichsam von selbst, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Um Veränderungen zum Gelingen zu verhelfen, erscheint die Aufgabe des Managements aus dieser Perspektive nicht als gezielte Steuerung, sondern eher als Zulassung und Gestaltung