Einsame Klasse. Felix Lill
schenkte mir seine Empfehlung für diesen Abend ein. Ich ließ mich auf den Whiskyluxus ein, er schien seinen Preis wert. Talisker Storm, ein Single Malt, einer der Rauchigsten des schottischen Nordens, gleichzeitig würzig, wie Tanaka mit leiser Stimme erklärte, als er das Glas mit dem dünnen Hals über die Theke schob. Der Stumme rechts von mir erkannte mich vom letzten Mal, würdigte mich eines scheuen Lächelns, justierte sich dann wieder auf seine Blickbahn zwischen Counter und Flaschenwand. Auf dem Tresen vor ihm lag kein Handy, kein Päckchen Zigaretten, nur ein schwarzer quadratischer Untersetzer und sein 17-jähriger Hibiki, straight, ohne Eis. Der Mann reduzierte sich wohl aufs Wesentliche. Schwieg, bewegte seinen Kopf gelegentlich minimal, aber ohne von außen sichtbaren Grund. Wie letztes Mal trug er einen dunklen Anzug, den oberen Hemdknopf offen, den Rücken über das glanzpolierte Holz der Theke gekrümmt. Trotz des förmlichen Auftritts passte er gut zum Prototypen des Losers, den ich seit meiner Kindheit aus Fernsehserien kannte. Lächelte wenig, sprach gar nicht, hatte immer ein Glas Hochprozentiges zur Hand. Ob er süchtig war, war schwer zu sagen. Er kippte sich die Gläser nicht in den Rachen, und wenn ihm die jazzige Kombination aus Piano und Schlagzeug aus den Lautsprechern gefiel, trank er einige Minuten gar nicht, hob das Glas unentschlossen an und stellte es ohne anzusetzen wieder ab. Aber er war alleine. So sehr, dass niemand, nicht einmal Herr Tanaka, der ihn sicher regelmäßig bewirtete, ihn auf irgendeine Weise hätte ansprechen können, ohne dass es aufdringlich gewirkt hätte. Der Unterschied zum verkorksten Verlierer der Gesellschaft aus meiner Vorstellung war, dass der hier keinen Ärger machte, und dass es mir, je länger ich ihn sah, umso wahrscheinlicher vorkam, dass ich ihm seine Traurigkeit nur andichtete. Irgendwann stand er auf und ging zur Toilette.
»Herr Tanaka, verzeihen Sie mir die Frage: Ist dieser Mann immer allein?«, fragte ich leise und etwas zu hastig.
»Er kommt immer ohne Begleitung. Er wohnt in der Nähe, bleibt nach der Arbeit meistens für zwei Stunden ungefähr.«
»Glauben Sie, es geht ihm gut oder schlecht?«
Tanaka schwieg, schien die Frage nicht zu verstehen.
»Ich meine, ist er traurig oder fröhlich?«
Keine Reaktion.
Ehe unser Gesprächsthema wieder an seinen Platz zurücktrotten würde, versuchte ich, mich durch eine Filmszene zu erklären. »Sie kennen Lost in Translation?«
Tanaka nickte.
»Eines Abends sitzt Charlotte alleine an der Hotelbar. Sie schweigt und schaut vorsichtig zu den besetzten Tischen hinter sich. Wahrscheinlich ist sie neidisch auf all die anderen Menschen in Gesellschaft. Denn sie sitzt nur deshalb alleine an der Bar, weil sie niemanden kennt und auch nichts Besseres zu tun hat. Und es mag schon sein, dass sie sich angesichts all dieser Umstände auf ihrem Stuhl mit dem Getränk in der Hand wohlfühlt. Aber eigentlich ist sie einsam. Sie wünscht sich etwas Anderes.«
Tanaka hörte zu und musste schmunzeln. »Lost in Translation war vielleicht kein sehr guter Film«, sagte er. Der Reglose nahm wieder Platz, Tanaka sprach leiser weiter. »Die japanischen Figuren kommen darin ein bisschen wie Außerirdische rüber, denke ich. Und vielleicht müsste Charlotte auch gar nicht so verloren sein, wenn sie sich nicht so auf das konzentrieren würde, was ihr gerade fehlt.« Herr Tanaka nickte, als wollte er damit sagen, dass genug gesagt war.
»Die Story wird ja aus der Perspektive von dieser Charlotte erzählt«, entgegnete ich. »Ist es daher nicht okay, dass ihr Umfeld ihr fremd erscheint? Mir kam der Film nicht rassistisch vor. Die eigentlich Blöden sind doch die beiden Ausländer, die junge Charlotte und der ältere Bob, die einfach nichts verstehen.« Wir schwiegen einen Moment, stießen beide ein zustimmendes Stöhnen aus. »Vielleicht haben Sie ja Recht«, sagte ich zu Tanaka. »Und Charlotte macht sich zu Unrecht Sorgen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist das so«, erwiderte er.
War das vielleicht so? Sollte ich, anstatt Lena hinterher zu trauern, nach vorne blicken, die Revolution für gescheitert erklären, oder einfach für abgeschlossen? Das hieße auch, dass das anscheinende Schwinden der Liebe in Japan, über das ausländische Medien oft wie über eine Apokalypse berichten, aus Sicht der Betroffenen keinen Weltuntergang bedeutet. Eine Katastrophe wäre das dann nur noch in den Augen der Betrachter, die eine »Eiszeit« beschreiben, und vielleicht auch für diejenigen, die darüber lesen. Liegt ein Missverständnis vor? Oder dienen die Beschreibungen eines traurigen Ortes auch der Beruhigung angesichts der eigenen Lage? Bedenkt man die ähnlichen sozialen Trends in Europa, wo der Anteil von Alleinstehenden und Menschen, die von der großen Liebe nur träumen, ebenso steigt, könnte beides zutreffen. Aus westlicher Perspektive liegt kaum ein Land geografisch und kulturell weiter entfernt als Japan. Es könnte sich so verhalten wie häufig mit Medienberichten über das globale Armutsproblem. Die dargestellte Not rüttelt nicht wach und fordert nicht zu einem gründlichen Umdenken der ökonomischen und politischen Verhältnisse heraus, sondern ermöglicht dem Leser oft genug, sich in Sicherheit und Wohlergehen zu wähnen. Frei nach dem Motto: »Gott sei Dank, ganz so schlecht geht es mir ja doch nicht.« Wer Artikel über Japans Demographie der Liebe liest, dem dürfte es oft ähnlich gehen. »Die Japaner sind ja verrückt«, war einer der häufigsten Sätze, den ich von Kollegen und Freunden in Europa bei Gesprächen über meinen neuen Wohnort von Anfang an hörte. »Das muss ja einsam sein, so etwas könnte ich mir für mich nicht vorstellen«, kam mir auch einige Male zu Ohren. Und: »Die Entwicklungen sind ja gruselig, oder?« Alle Personen, die mir solche Gedanken offenbarten, dürften gewusst haben, dass die zugrundeliegende Entwicklung des Alleinseins eine Gemeinsamkeit zwischen den Metropolen in Japan und vielen, wenn nicht allen, in Europa ist. Da sich Japans Singletrend in einem deutlich weiter fortgeschrittenen Stadium befindet als jener in Deutschland, Österreich oder einem anderen westlichen Land, könnte man die Antworten, die Menschen in Japan auf diese Entwicklungen finden, als mögliches Lehrstück begreifen. Stattdessen pathologisiert man Japan oft lieber, und erklärt sich mit dieser Abgrenzung selber für normal, gesund, bei Sinnen.
Ich roch den Torf des Talisker Storm, nahm vorsichtig einen kleinen Schluck und behielt ihn noch im Mund. Zuerst schmeckte er rauchig, wie von Herrn Tanaka beschrieben, als ginge die Bar Nocturne gerade in Flammen auf und fackelte die Holzeinrichtung ab. Mit jedem Moment, den ich das Destillat ohne zu schlucken im Mund hielt, wurde ich ihm gegenüber zutraulicher. Eine pfeffrige Würze überlagerte alsbald den Rauch. Die ließ ich sanft meine Kehle hinunterbrennen, schluckte dann und hielt einen Moment, innerlich stöhnend, still. »Herr Tanaka, darf ich fragen, ob Sie verheiratet sind?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
Mich drängte es nachzufragen, ob er es gerne wäre, aber angesichts seiner knappen Reaktion traute ich mich nicht. In dieser Stadt trat ich häufig in Fettnäpfchen, fragte hartnäckig und stumpf wie ein Journalist nach, ohne zu bemerken, dass ich manchmal die Leute verschreckte. In Gesellschaft der Einsamen wollte ich es mir nicht verscherzen. »Everyone wants to be found«, flüsterte ich und bemerkte nicht gleich, dass zumindest Tanaka und vielleicht auch der Reglose neben mir das hören konnten.
»Vielleicht ist auch dieser Satz nicht ganz wahr«, kommentierte Tanaka und verschloss die Arme hinter seinem Rücken wie ein Butler, der hin und wieder mit klugen Ratschlägen dient. Ich war verdutzt wegen dieser zurückhaltenden Radikalität, schaute runter auf meinen Whisky, den ich zu mögen begann, je länger ich mich auf ihn einließ.
Demnach müsste ich das Ende der Beziehung mit Lena nicht als Verlust eines harmonischen Naturzustands begreifen, auch wenn ich es seit unserem letzten Telefonat kaum anders sehen konnte. Vielleicht wäre nämlich die Festlegung dessen, wie das Leben eigentlich sein sollte, schon der erste Fehler auf dem Weg zu persönlicher Zufriedenheit. Lena konnte ich auch als eine Episode im Leben betrachten, auf die weitere folgen, die sich aber genauso als letzter Teil einer Saga herausstellen könnten. Ob das Natürliche, das Grundsätzliche des sozialen Lebens nun das Alleinsein oder die Zweisamkeit ist, könnte man einfach dahingestellt lassen, sich mit der Realität abfinden, ohne sie sich immer maßschneidern zu wollen. Nur hatte ich das bisher nie getan. Selbst in meinen langen Phasen als Single, die viel länger waren als jene, die ich in einer Beziehung verbracht hatte, hatte ich immer gedacht, dass ich eigentlich einen Partner brauche, oder brauchen sollte. Wie sonst gründet man eine Familie? Wie sonst kann man diesen