Einsame Klasse. Felix Lill

Einsame Klasse - Felix Lill


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an, behaupteten zu verstehen, widerlegten einander dennoch mit immer neuen Beispielen, die mit »weißt du noch, als« anfingen und mit »ja, aber« demontiert wurden. So wie sie wohl mit sich haderte, tat ich es auch, kannte ihre Antworten, wollte sie jedoch nicht hören. Ich wollte mit ihr zusammen sein, aber diese Frage nach der konkreten Schrittfolge im Leben kam mir blödsinnig vor. Gleichzeitig war ich wahrscheinlich selbst zu blöd, sie zu verstehen. Ihren Wunsch nach der Stabilität, die ihr vorschwebte, konnte ich nachvollziehen, aber nicht begreifen. Vielleicht würden wir irgendwann genau sagen können, wie lange wir hier bleiben, wie es weitergeht.

      Irgendwann weinten wir, dann lachten wir, dann sprachen wir über ihre Eltern, über meine, über ihre Geschwister, über meine, über die Heimat und die Ferne und waren ganz vom Thema abgekommen.

      »Du fehlst mir«, sagte ich.

      »Du fehlst mir auch«, sagte sie.

      »Wann kommst du wieder nachhause?«, fragte ich, als sich Lenas Stimmlage nach den nostalgischen Gesprächsinhalten ins Ernste, Desillusionierte kehrte. Jetzt schwieg sie.

      Ich hörte nur ihr Ausatmen, wie sie es öfter von mir gehört haben musste, und spürte, wie quälend diese Reaktion sein kann.

      Noch quälender war ihr anhaltendes Schweigen. »Mach’s gut«, flüsterte Lena schließlich durch die Telefonleitung in mein Ohr.

      In Tokio, wo wir gemeinsam angekommen waren, sollte ich’s gut machen, allein? Das klang nach einem letzten schlechten Witz.

      EINE STADT AUF ENTZUG?

      Mir war es schon wie der Naturzustand vorgekommen. So wohlig hatte ich mich in dieser Welt der Zweisamkeit eingerichtet, dass ich mich an das andere Leben nur dunkel erinnern mochte. Aber war es nicht immer nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich wieder allein war? Das sagte ich mir jetzt jedenfalls. Vielleicht wollte ich bloß Recht haben, vor mir behaupten können, dass ich den Ausgang dieser Story von Anfang an gekannt hatte. Falls das wirklich zutraf, hatte ich das für einen langen Zeitraum vergessen, bis die Fallhöhe ganz unbemerkt ziemlich schwindelerregend geworden war. Nach fünf Jahren, unzähligen Diskussionen, Versöhnungen, Vertrauensbrüchen, Neuanfängen, Enttäuschungen und Überraschungen hatte sie die Schnauze voll. Dass ich jetzt endlich das Haus verlassen und allem fernbleiben konnte, ohne mich rechtfertigen zu müssen, hätte mich beflügeln können. Aber es zog mich runter.

      Ins Kellergeschoss eines unauffälligen Gebäudes im Büroviertel Yotsuya, in die Bar Nocturne. Unter meinen Ellenbogen ein glattpolierter Tresen aus Holz, über meinem Kopf Boxen, aus denen bluesiger Pianojazz spielte, gegenüber ein Mann in weißem Hemd, schwarzer Weste und Fliege, wahrscheinlich kurz vorm Midlife-Crisis-Alter. Mit einem kräftigen Schwung im Arm wirbelte er ein kleines Glas durch die Luft, ehe er dem Typen zwei Sitze neben mir vorsichtig einen 17-jährigen Hibiki einschenkte.

      Der Gast zog das Glas vor seine Brust an die Barkante und hielt sich einige Minuten daran fest. Er war alleine hier, wie ich, aber einen Tick älter, Mitte dreißig wahrscheinlich, und angesichts seiner Reglosigkeit schien es ihm lieber zu sein, wenn sich seine Blicke mit niemandem kreuzten. Parallel schauten wir an die Flaschenwand hinterm Barkeeper. Whisky aus Schottland, Irland, Kanada, Japan, Zehnjährige, Zwölfjährige, Siebzehnjährige. Im rechten Augenwinkel sah ich, wie seine Hand das Glas hob. Ein Viertel des Getränks machte einen Abgang. 17 Jahre voller Hingabe, akribischen Brennens und strenger Lagerungsregeln flossen nun ins Verdauungssystem dieses stillen Typen.

      Was sind dagegen schon fünf Jahre Beziehung? »Ich nehme auch einen«, sagte ich möglichst leise, gleich eingeholt von einem Gefühl der Schuld, das mich wie ein Schauer überkam, weil damit jeder wusste, dass ich meinen Sitznachbarn beobachtet hatte. Und dann der Preis: für zwei Zentiliter umgerechnet gut zwölf Euro. Meine Gewohnheit in Bars war eher, das billigste Bier des Hauses zu nehmen, Geschmack zweitrangig. Der Barmann sah mir das bestimmt an, nickte aber wie ein Ahnungsloser, suchte nach einem passenden Glas, wirbelte es durch die Luft, schenkte langsam ein und schob es über den Tresen zu mir.

      Erst atmete ich die 17 Jahre ein, dann setzte ich das Glas an die Unterlippe, reichte nur ein Bisschen an meine Zunge, schwenkte es vorsichtig durch den Mund. Ein zaghafter Schluck. Der erste Teil von 17 Jahren war jetzt auch bei mir dahin. Feine Eleganz breitete sich aus. Erst schmiegte sich der Hibiki pflaumig und schwer in meine Mundhöhle, am Ende zitrusartig apfelig. Ob mir das gefiel, wusste ich nicht. Mir entwich ein Stöhnen, ich fühlte mich verführt und sofort dabei ertappt. Reflexartig tat ich so, als wäre nichts geschehen.

      »Wie heißen Sie?«, fragte der Barmann. Der Ton seiner Stimme allein erklärte mir, dass ich keine Regel bräche, wenn ich mich abwendete und lieber stumm um mich schaute.

      »Felix«, antwortete ich, wobei ich wusste, dass er sich jetzt mit seinem Nachnamen vorstellen würde.

      »Ich heiße Tanaka.« Mit beiden Händen überreichte er mir die Visitenkarte der Bar Nocturne mit seinen Kontaktdaten. Er verschwand hinter einem dunkelgrauen Vorhang und kam mit einem kleinen Teller getrockneter Früchte zurück. »Willkommen.« Wir wechselten noch ein paar Worte. Von mir als Deutschem wollte er wissen, wie ich über die japanischen Fußballer in der Bundesliga denke, dann, was mein Job sei und ob ich öfter Whisky trinke. Ein Ja wäre zu dem Zeitpunkt noch gelogen gewesen.

      Ein gutes halbes Jahr war ich nun hier, kannte Tokio noch nicht sonderlich gut, und Whisky hatte mich nie interessiert. Aber ich war aufgeschlossen. Als sich für Lena die erste Chance ergab, diese Stadt wieder zu verlassen, hatte sie die Flucht ergriffen. Jetzt wollte ich mich der Sogkraft Tokios erst recht ergeben, widerstandslos. Noch viele Drinks, Interviews und Artikel sollte ich brauchen, um zu erahnen, warum eigentlich. Bis mich dünkte, dass das Leben besonders vieler Menschen in Tokio ein Vorbild sein könnte für das, was auch in Europa und in vielen Ballungsräumen in anderen Teilen der Welt immer mehr Menschen umtreibt. Bis ich mich von Fragen überhäuft sah und mich auf die Suche nach Antworten machen musste.

      Der Whiskygeschmack im Mund verließ mich, der raumlose Rückzugsort, der sich mit ihm aufgetan hatte, verschwand. Ich blickte vorsichtig um mich. Hinter den Rücken von uns Einzelgängern am Tresen lag eine Frau halb im Sofa an einem Tisch, der eigentlich für Vierergruppen gedacht war, und tippte auf ihrem Handy. Daneben ein Einzeltisch, daran eine junge Frau, die abwechselnd in ihrer Tasche kramte und in einem Buch las, dessen Titel ihr Geheimnis blieb, da sie das Cover in Papier eingewickelt hatte. Neben mir am Tresen starrte rechts der reglose Hibiki-Trinker an die Wand, links nahm ein alter Herr Platz und besetzte den Stuhl neben sich mit seinem Hut. Keiner sprach. Hier war jeder allein. Und darin irgendwie in guter Gesellschaft.

      An einem anderen Tag spazierte ich durch eine der von Reklamen an Häuserwänden bewachten Straßen, die Lena und ich an Samstagen runtergeschlendert waren. Mir fielen Dinge auf, die bis dahin an mir vorbeigezogen sein mussten. Sicher waren sie nicht erst jetzt da, wo ich wieder Single war. Hinter den Fensterwänden von Cafés aßen überraschend viele junge Leute ihren Kuchen ohne Begleitung. Als ich zur Mittagszeit in ein Schnellrestaurant ging und mir bei einer Roboterstimme am Automaten Ramen-Nudeln bestellt hatte, nahm ich an einem der vielen Tische Platz, die für Einzelbesucher angerichtet waren. Beim Joggen in der Abenddämmerung entlang des breiten Tamagawa-Flusses lieferten sich Tennisspieler Duelle mit der Wand, ein Stück weiter hielten in Fußballmontur gekleidete Hobbysportler den Ball mit dem Fuß in der Luft, ohne Mit- oder Gegenspieler. Wieder begegnete mir Lenas Satz aus der Flughafenhalle von Dubai: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.« Damit hatte sie ihre engsten Freunde gemeint, aber hier ging es nicht nur um zwei einander Verflossene. In Gedanken an Lenas Frage, all die zuletzt in die Brüche gegangenen Beziehungen und im Angesicht dieser Einzelgänger in Tokio fragte auch ich mich: Wie würden sie sich ohne Liebe, diese Grundenergie für fast alles, durchs Leben kämpfen?

      Lena fühlte sich von mir alleingelassen, weil ich mich in Arbeit und Studium stürzte und die Sprache lernen wollte, sodass für uns zwei tatsächlich nicht viel Zeit blieb. Das war zum Teil meine Schuld gewesen. Die Einzelgänger, die ich erst jetzt sah, waren für sie ein tägliches Spiegelbild gewesen, wurden nun zu meinem. Ihr hatte der Anblick nicht gefallen. Umso wichtiger war es wohl, dass wir unsere Beziehung zur üblichen Erzählung der unzerstörbaren


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