LANDLÄUFIG. Peter Kiefer

LANDLÄUFIG - Peter Kiefer


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      Bauer Borstel bittet ihn, weil’s guter Brauch ist, auf einen Schluck mit ins Haus zu kommen. Als Doktor Reiter, angetan von Borstels Klarem, sicher noch mehr von sich selbst, später das Haus wieder verlässt, laufen die Hühner erneut im Kreis. Das Merkwürdige ist nur, dass der Hahn jetzt reglos in der Mitte dieses Kreises steht. Man fühlt sich unwillkürlich an den Kriegstanz um einen Marterpfahl erinnert. Doktor Reiter begreift, dass seine auf Latein geäußerte Beschwörung nicht ausreicht. Er wird sich jedoch Schritt für Schritt vorarbeiten, paulatimque discessum.

      In der Folgezeit ist Borstels Hof von lauter kreuz und quer verlaufenden Linien durchzogen. Wer diesen betritt, denkt unwillkürlich an ein System magischer Zeichen und Bauer Borstel wird zum Gegenstand der dörflichen Gerüchteküche, die Sprüche des Doktor Reiter, mit denen Borstels Frau inzwischen hausieren geht, tun ein Übriges. Früher hätte man solche Leute auf den Scheiterhaufen geschickt, hat es im Dorf schon geheißen.

      Zwei Schritte sind es noch bis zum Abgrund, ich mache den ersten. Unter mir in der Tiefe liegt der See, dessen spiegelglatte Oberfläche das Sonnenlicht silbrig weiß zurückwirft. In geringer Entfernung hinter mir steht

      Blauweiß

      der Mann mit dem Jagdgewehr. Er lässt mir die Wahl: Entweder springe ich hinab in die Tiefe oder er wird mir eine Kugel in den Rücken jagen. Ich breite die Arme aus, als wären es Engelsflügel, die mich heil durch die Lüfte tragen könnten, und mache den zweiten, den alles entscheidenden Schritt und schreie, so laut ich nur kann. Davon wache ich auf.

      Draußen kräht Borstels Hahn. Ich sitze aufrecht in meinem Bett und brauche eine Weile, bis ich begriffen habe, dass niemand, auch Blauweiß nicht, mit einer Waffe hinter mir steht und auf mich zielt. Dennoch drehe ich mich zur Sicherheit noch einmal kurz um.

      Blauweiß ist der größte Bauer im Dorf, eine Art Businessbauer. Wenn ich ihm über den Weg laufe, trägt er stets ein Headset im Ohr und verhandelt mit irgendwelchen Geschäftspartnern oder gibt Anweisungen an Mitarbeiter.

      Er redet zwar keinen Dialekt, zitiert ihn aber gelegentlich, um das Geschäftsmodell »regionale Produkte« hervorzuheben. Selbige vertreibt er in blauweißen Tüten, blauweiß etikettierten Gläsern und Dosen, die man in den umliegenden Supermärkten oder in seinem mit Souvenirs aufgeputzten Hofladen findet.

      Seine Frau stammt aus altem Landadel. Er glaubt, dass er sich das schuldig gewesen ist. Jedes Jahr zum Erntedankfest präsentieren sich beide in barocken Kleidern und gepuderten Perücken und fahren in einer Kutsche, huldvoll durchs offene Fenster winkend, die beiden Dorfstraßen entlang. Frau Krottek, mittlerweile in ihren Neunzigern und mit den ländlichen Festen nostalgisch vertraut, steht dann am Straßenrand und macht den halben Knicks, den ihre künstliche Hüfte noch erlaubt.

      Blauweiß geht auch auf die Jagd und trägt auf seinem Schlapphut den längsten Gamsbart aller versammelten Jäger. Natürlich schießt er auch den größten Bock, obwohl Gerüchte nicht verstummen, die behaupten, jene Böcke stammten selten einmal aus dem hiesigen Wald. Aber man will es sich mit Blauweiß und seinen – durchaus gezielten – Freigiebigkeiten nicht verderben.

      Dass er mal in einer Nacht einem offenbar verirrten Landstreicher mit der Schrotflinte hinterhergejagt ist und diesen böse verletzt und dann überstürzt in sein SUV geladen und samt einem Geldbündel vor der Tür eines Krankenhauses wieder ausgesetzt hatte, ist zwar ebenfalls nur ein Gerücht, wird aber noch hin und wieder kolportiert: Den Dorfbewohnern kommt es nicht ungelegen, sie wollen etwas gegen ihn in der Hand behalten, falls es mal nötig ist, heißt, falls er mal richtig stolpern sollte und falls dann zusätzlich noch ein kleiner Tritt nötig wäre.

      Ich begegne ihm nicht oft und wenn, nimmt er mich lediglich mit freundlicher Routine wahr. Verfolgt mich aber noch im Traum.

      Sie ist zuerst nur ein Gesicht, das plötzlich über einer Zaunhecke erscheint, wie eines, das man träumt. Das Gesicht hat breite Wangen, eine breite Nase und stahlgraue, von dicken Brauen überwölbte Augen. Es ist ein wenig zur Seite geneigt und starrt mich schweigend an.

      Hallo, sage ich und versuche halbwegs entspannt zu klingen.

      Hallo, sagt das Gesicht und bewegt dabei lediglich die Lippen: Ich bin

      Grete Hülsenbeck

      Ich stelle mich ebenfalls vor, doch schon im nächsten Augenblick ist das Gesicht wieder verschwunden, wie ein Dia in einem alten Vorführgerät, das soeben dem nächsten Platz gemacht hat. Weder vernehme ich Schritte noch das Schlagen einer Tür. Sie ist ein Geist, denke ich und blicke hinüber zu dem mit grauschwarzen Schindeln verkleideten Giebel ihres Hauses, das sie, wie man mir gesagt hat, alleine bewohnt. Es ist ein geräumiges altes Bauernhaus mit einer großen Scheune. Manche wollen von da schon merkwürdige Klagelaute vernommen haben und sprechen sogar von Selbstgeißelungen.

      Als ihr Gesicht das nächste Mal über der Zaunhecke erscheint, sagt es lediglich den Satz: Intra muros peccatur et extra2.

      Ist sie eine von diesen Frömmlerinnen, die überall Unrat und Verderbnis wittern und es nie verwunden haben, dass in der katholischen Kirche kein Latein mehr gesprochen wird? Oder ist sie bloß ein durchtriebenes Frauenzimmer, das es darauf anlegt, Verwirrung in den Köpfen seiner Nachbarn zu stiften?

      Auf dem jährlichen Sommerfest des Dorfes ist sie mit einem kleinen Zelt vertreten. Manche von außerhalb, die es nur im Vorübergehen wahrnehmen, denken sicher, dass einem darin jemand aus der Hand lesen würde. Aber andere wissen es besser. Weder muss man bei ihr seine Handfläche hinhalten, noch liest sie die Zukunft aus einer Kristallkugel, legt Karten oder erstellt Horoskope. Stattdessen hat sie etwas zu verkünden und wer immer sich einmal in ihr Zelt getraut hat, kommt leicht verstört wieder heraus.

      Meine Neugierde ist geweckt und ich betrete das kleine runde Zelt mit dem kegelförmigen Dach. Da sitzt sie an einem Tisch, dessen Platte kaum größer ist als die Sitzfläche eines Stuhls, und eine Petroleumlampe taucht alles in ein unruhiges Licht. Sie begrüßt mich sofort mit meinem Namen, lächelt aber nicht dabei, sondern zeigt nur wieder dieses maskenhafte Gesicht, das ich von der Zaunhecke kenne.

      Fünf Euro, bitte.

      Ich lege den entsprechenden Schein auf das Tischchen und nehme ihr gegenüber auf einem eisernen Gartenstuhl Platz.

      Sie hat ein dünnes Büchlein aus ihrer Schürzentasche geholt, schlägt es an einer scheinbar beliebigen Stelle auf und liest einfach los: Und ich sah einen großen weißen Thron und den, der darauf saß, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod und der Hades wurden in den Feuerpfuhl geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuerpfuhl. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buch des Lebens, so wurde er in den Feuerpfuhl geworfen.

      Sie klappt das Büchlein wieder zu, blickt aber nicht zu mir auf, sondern verharrt in ihrer vorgebeugten Haltung.

      Was ist das für eine Schrift?, frage ich.

      Sie antwortet: Selig der Leser und die Hörer der prophetischen Worte und die sich an das halten, was darin geschrieben steht. Denn die Zeit ist nah.

      Sie sagt diese Sätze mit fast geschlossenen Augen. Dann schweigt sie wieder.

      Okay, sage ich, erhebe mich und verlasse das Zelt. Es ist blauweiß gestreift, aber das kann Zufall sein.

      Heinz-Otto Krusche

      besitzt auf Menorca eine Finca. Er spricht ein leidlich gutes Spanisch und wird dort, wie er gelegentlich einfließen lässt, gerne Don Otto genannt. Das ist mittlerweile auch sein im


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