LANDLÄUFIG. Peter Kiefer
noch in einem Funkloch lag? Man erfährt bald mehr, vor allem seinen Namen, Toketalagi, und dass ihn ein Aufstand seines Volkes gezwungen hat, ins Exil zu gehen. Nun ist er, offenbar seinen Wünschen gemäß, in der geografischen Abgeschiedenheit gelandet. Zu Gesicht bekommt ihn nach seinem Einzug in den Vierseithof erst einmal niemand mehr.
Wer die beiden jungen Damen sind, bleibt offen. Trotzdem gehen alle davon aus, dass es gerade ihres deutlich jüngeren Alters wegen seine Ehefrauen sein müssten. Ein Selbstherrscher wie Toketalagi hat bei der Auswahl von Frauen bekanntlich die freie Wahl, weshalb sollte er sich da mit gleichaltrigen zufriedengeben?
Aber bloß zwei Frauen?, fragt man. Müsste es nicht ungefähr ein halbes Dutzend sein? Zu schweigen vom Rest der Großfamilie. Man denkt sich melodramatische Geschichten aus. Etwa, dass er ohne etwas mitnehmen zu können auf einem viel zu kleinen Boot die Flucht angetreten hat. Dass ein Sturm aufgekommen ist, der fast alle aus seiner Entourage über Bord gespült hat, dass auch er und die Frauen bereits verloren schienen, dass aber kurz vor ihrem Verdursten, als sie nur noch auf dem Ozean umhertrieben, ein Überseedampfer sie aufgegabelt hat und Toketalagi schließlich gerettet wurde, er und sein Geld. Denn jetzt konnte er wieder an seine Schweizer Konten gelangen. Nur müsse er sich eine geraume Zeit vor seinen Feinden verbergen, wenigstens solange bis Gras über seine Machenschaften gewachsen sei.
Seine Verbrechen, verbessert Albert, genannt Ali der Hacker, und verweist auf einen Link dazu im Internet, wo Toketalagis kriminelle Schamlosigkeiten aufgelistet sind. Wäre demnach ein blutiger Diktator ins Dorf gezogen? Man schwankt ein wenig zwischen Faszination und Grauen.
Nun kommt jedoch Helena ins Spiel, die mit weiblichen Rundungen nicht geizende Wurstbraterin. Sie ist nämlich die Assistentin jenes Harry Deister gewesen und kennt diesen Hof, in den Toketalagi Einzug gehalten hat, nur zu gut. Vor allem, wie sie betont, kennt sie die Geheimnisse des Hauses. Von ihren Informationen wie immer freizügig Gebrauch machend, deutet sie an, dass dieses Haus mehr als nur ein Depot für erotische Accessoires gewesen sei. Man hätte durchaus prominente Kunden gehabt, die inkognito ihre Toys hätten testen können. Mit Handreichungen des diskreten Personals. Dazu macht sie ein vielsagendes Gesicht und fügt anstandshalber hinzu, dass sie natürlich keine Namen nennen könne.
Es gelingt ihr – über das Wie kann man bloß Mutmaßungen anstellen –, sich bei Toketalagi Zugang zu verschaffen.
Am nächsten Tag ist ihre Brutzelbox geschlossen, am übernächsten und den folgenden Tagen auch. Normalerweise macht sich um Helena niemand im Dorf besondere Gedanken. Aber dieses Mal, weil viele schon damit gerechnet hatten, dass sie nicht zögern würde, an ihre alte Wirkungsstätte zurückzukehren, erscheint sie übergroß auf dem dörflichen Radar.
Sie ist in die Hände eines berüchtigten Gewaltherrschers geraten, dem ist alles zuzutrauen!, meint Klärchen Hummer und Rose Gürtler sagt: Was muss sie sich auch dauernd in die besseren Kreise hochschlafen wollen? Jetzt ist sie schmerzhaft ins wahre Leben getappt!
Holgass, der Dorfpolizist, gerät ins Schwitzen. Er pocht auf eine formale Anzeige, die freilich niemand stellt, aber es scheint wohl Gefahr im Verzug. Schnaubend setzt er sich seine Dienstmütze auf den Kopf. Wenig später klopft er ans Tor, die Hand schon am Pistolenhalfter. Im nächsten Moment verschwindet auch er von der Bildfläche.
Im Dorf macht sich große Unruhe breit. Don Otto überlegt laut, ob er nicht einen Marsch auf diese von allen Seiten umfriedete Festung ausrufen soll, mit Presse und mit dem Schützenverein.
Sie werden bei unserer Ankunft bestimmt keine heißen Teerkübel aus den Fenstern auf uns gießen, meint er mit nervöser Süffisanz und hat ein Bild vor Augen wie zu Zeiten der Bauernkriege, wo die Dorfbewohner mit Heugabeln, Hellebarden und Sensen bewaffnet gegen Toketalagis Burg ziehen werden. Gegen ein Troja, um eine Helena zu befreien.
Bewaffnet hat sich freilich niemand. Nicht dass sie tapfer wären oder gar opferwillig. Was die Schar, die sich jetzt zum Angriff rüstet, alleine antreibt, ist ihre unbezwingbare Neugierde. Dreißig Leute sind ungefähr zusammengekommen, verstärkt um den Reporter vom Kreisblatt. Die Frauen sind dabei deutlich in der Mehrheit. Don Otto setzt sich mit unentwegt gerunzelter Stirn an die Spitze, in der Hand ein Megafon. Er wird Toketalagi auffordern, seine Gefangenen freizulassen, ansonsten der mal den Rechtsstaat kennenlernen werde, mit dem sei nämlich nicht zu spaßen. Mit seiner Krawatte tupft er sich die Stirn.
Nun rücken sie an, zusammengehalten durch die Aufregung, mit der jeder sich jedem aufdrängt. Ich habe mich dem Zug ebenfalls angeschlossen und vermag schon von Weitem zu erkennen, dass an der Eingangsseite die Fenster des Gebäudes geöffnet sind. Als wir näherkommen, erkenne ich Helena, die sich hinabbeugt und heftig mit den Armen fuchtelt.
Don Otto ruft durchs Megafon: Wir kommen, dich zu befreien!
Aber Helenas aufgeregtes Winken ist ganz anders gemeint.
Er wird mich heiraten!, ruft sie atemlos. Gestern hat er mir einen Antrag gemacht!
Noch und noch mal und fast zu jedem Einzelnen in der gaffenden Schar ruft sie: Er wird mich heiraten!
Ich stelle mir vor, dass ihre ausladenden Formen in dem schmächtigen Toketalagi eine lustvolle Entsprechung finden.
Nun erscheint neben ihr auch Holgass, im Hawaiihemdchen und mit einem knallroten Stirnband. Übermütig wirft er seine polizeiliche Dienstmütze wie eine Frisbeescheibe in die Menge.
Ich bin zur Leibgarde ernannt worden, tönt er und schießt mit seiner Dienstpistole, die er behalten hat, zweimal in den Himmel.
Zuletzt erscheint auch er selbst am Fenster, Toketalagi, schmal und mit Sonnenbrille. Es ist nur ein kurzes Lächeln, das er zeigt und das seine schneeweißen Zähne entblößt. Er winkt uns lässig, fast gelangweilt zu und zieht sich dann wieder ins Innere zurück, mit ihm Helena in ihrem goldgrünen Sarong.
Die Dorfbewohner starren noch eine Weile zu den leeren Fenstern hinauf und sind, ob sie es wollen oder nicht, ziemlich beeindruckt.
Blauweiß, der Großbauer, destilliert einen vierzigprozentigen Wodka, den er selbstverliebt
Der Blauweiße
nennt. Ein zugehöriger Werbeslogan lautet Himmlisch (auf blauem Grund) Rein (auf weißem Grund). Das reizt die Spötter. Sie nennen den Blauweißen »diese Waschmittelbrühe« und schlagen vor, noch etwas Kohlensäure zuzusetzen, damit's auch ordentlich schäumt.
Blauweiß reagiert flexibel. Er sucht eine Werbeagentur auf. Daraus lässt sich was machen, sagen sie dort. Und dann machen sie was draus.
Himmlisch Rein ist nun eine neue und größere Werbeanzeige überschrieben. Eine pausbäckige Bauernmagd mit weitem Rock und langer Schürze will die Blauweißflasche in einen schäumenden Waschbottich gießen. Ein feixender Bilderbuchkosake hat sich jedoch dazwischengeschoben und der Wodka fließt nun statt in den Bottich in das Glas, das er darunterhält. Rettet unseren Besten steht daneben und es folgt ein Aufruf zu einer großen, mit Preisen angereicherten Aktion, bebildert durch eine Gruppe von Leuten, die alle in einen blauen Himmel blicken und dabei ein Wodkaglas in die Höhe halten. Fehlen nur noch die Kinder.
Blauweiß hat es wieder einmal allen gezeigt, mit dem Blauweißen macht er Umsatz.
Doch wird im Ort ein Murren vernehmlich. Es rührt von den oftmals unberechenbaren Landfrauen her. Sie beschweren sich über das Bild der tumben Bauernmagd. So könne man heutigentags keine Frau mehr zum Besten geben, nicht nur in der Stadt hätten die Dinge sich gewandelt. Man rede ja auch kaum noch von Dorfdeppen. Warum schütte so einer nicht den Schnaps ins Waschwasser? Es weht ein Hauch von Feminismus durchs Dorf.
Blauweiß, dem alles zu Ohren kommt, beschwichtigt, wo er kann, meint, man sollte diese Reklame mit Humor begleiten, verteilt hier und dort Probefläschchen und reibt sich sogar die Hände, weil sein Etikett so viel Aufsehen erregt.
Die Sache nimmt jedoch ein ungeahntes Ausmaß an. Denn in einzelnen Familien kommt es bereits zu Verstimmungen. Frauen versuchen den Männern –