Haiders Schatten. Stefan Petzner
Kindern. »Schaut zu, denn in diesem Moment wird Weltgeschichte geschrieben.« Sein Versuch, uns die Hintergründe zu erklären, schlug fehl, doch eine Sache verstand ich: Politik verändert die Welt.
Der Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu war auch so ein Ereignis. Die Fernsehbilder waren gespenstisch: Der Diktator, der mit geballter Faust vom Balkon seines Palastes spricht, die demonstrierenden Massen vor ihm zu beschwichtigen und mit neuen Versprechungen zu besänftigen versuchte. Das Volk, das das Gebäude stürmte und ihn zur Flucht im Hubschrauber vom Dach seines eigenen Palastes zwang. Drei Tage später seine Verhaftung, der Schauprozess und seine Hinrichtung durch ein Erschießungskommando, das ihn an eine Ziegelwand an einem geheim gehaltenen Ort irgendwo in Rumänien stellte. Diese Bilder verfolgten mich tagelang in meinen Träumen. Mit acht Jahren verstand ich, dass es in der Politik nicht nur geliebte und geehrte Menschen gab, sondern dass politisches Handeln auch düstere Konsequenzen haben konnte. Den Tod inklusive.
Mein Vater hatte immer ein gespaltenes Verhältnis zu Haider. Zum einen freute er sich über die steigende Bedeutung, die seine Partei, für die er im Laßnitzer Gemeinderat saß, durch die von Haider erzielten Wahlerfolge auf einmal hatte. Vor Haider war die FPÖ eine Kleinstpartei mit gerade einmal vier, fünf oder höchstens acht Prozent gewesen, erst mit Haider an ihrer Spitze begann ihr Siegeszug. Wir saßen an jedem Wahlabend vor dem Fernseher, egal ob gerade Landtagswahl oder Nationalratswahl war, und fieberten dem Ergebnis entgegen. Dass Haider wieder einmal gewinnen würde, war damals schon vor der ersten Hochrechnung dem ganzen Land klar, die Frage lautete stets nur noch, wie hoch.
Andererseits fühlte sich mein Vater immer dem liberalen Lager innerhalb der FPÖ zugetan, das sich von vielen Ideen des nationalen Lagers, dem die Burschenschaften angehörten, distanzierte. Auf einem Bundesparteitag der FPÖ stimmte er seinerzeit daher auch für den liberalen Norbert Steger als Parteiobmann und gegen den Kandidaten des nationalen Lagers. Jenem Norbert Steger, der später von Jörg Haider gestürzt werden sollte. Denn obwohl mein Vater als Bauer aus einer konservativen und ländlich-traditionell geprägten Region stammte, war er ein weltoffener und liberaler Mensch. Als solcher war er ein glühender Anhänger des vereinten Europa, des Euro als gemeinsame Währung und des Beitritts Österreichs zur EU. Haider hingegen schürte zuerst die Ängste der Menschen vor diesen Veränderungen, und benützte sie dann, um zu polarisieren.
Die kalkulierten Skandale, die Haider regelmäßig lieferte, verabscheute mein Vater. Als Haider Österreich als »ideologische Missgeburt« bezeichnete und wochenlang Historiker und Politikwissenschaftler darüber diskutierten, war auch er aufgebracht. »Was ist ihm da wieder eingefallen?«, schimpfte er. »Das geht doch nicht. Das ist eine Beleidigung aller Österreicher. Ich kann das nicht unterstützen.«
Auch als Haider das Thema Zuwanderung entdeckte und 1993 sein Ausländer-Volksbegehren startete, weigerte sich mein Vater, es zu unterstützen und zu unterschreiben. »Das ist menschenverachtend«, sagte er zu mir, und Hetze würde seiner politischen Haltung widersprechen. Zu den grundlegenden christlichen Werten, die ausgesprochen oder unausgesprochen meine gesamte Familie prägten, gehörte auch die Hilfe für Menschen, die Hilfe benötigten. Egal welcher Herkunft.
Ich hingegen sah die Dinge emotionslos. Ich sah in Haider den geschicktesten politischen Taktiker im Land, der mit seinen Gegenspielern meist machte, was er wollte. Bei seinen polarisierenden Äußerungen interessierte mich vor allem, wie weit er gehen konnte. Ich entdeckte die schmale Grenze zwischen Applaus und Ekel bei solchen Äußerungen, und Haider als waghalsigen Grenzgänger zwischen den Fronten. Als Haider etwa im TV-Duell im Zuge der Nationalratswahl 1994 den damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Franz Vranitzky vor laufenden Kameras mit einem »Taferl« auf dem die Mehrfach-Einkommen eines SPÖ-Multifunktionärs angeführt waren, völlig aus der Fassung und aus dem Konzept brachte, war ich nicht nur fasziniert. Die dahinter steckende Machart solcher Aktionen und ihre Wirkungsweise beschäftigten mich intensiv.
Doch die Kluft zwischen mir und meinem Traumberuf erwies sich, als ich in die Hauptschule in der Bezirkshauptstadt Murau wechselte, noch größer, als es in der Laßnitzer Volksschule den Anschein gehabt hatte. Dort sah es für mich weder nach einer Laufbahn in der Politik, noch in irgendeinem anderen Bereich, der eine höhere Bildungslaufbahn voraussetzte, aus. Denn ich kam mit dem Schulwechsel schwer zurecht. Für einen Bauernjungen wie mich war Murau eine große fremde Stadt mit vielen unbekannten Gesichtern. Alleine in meiner Klasse waren jetzt mehr Schüler als bisher in der ganzen Schule, und insgesamt gab es hier mehrere Hundert. Das machte mir Angst. Ich zog mich in mich selbst zurück und wurde ein extrem schüchterner Junge.
Meine wenigen Freunde aus der Volksschule fanden rasch Anschluss und waren für mich schon bald keine Bezugspersonen mehr. Auch deshalb, weil ich im Unterricht weiterhin nur Mittelmaß war. Außer in Deutsch war ich in allen Fächern in der zweiten von drei Leistungsgruppen, während meine Kindheitsfreunde sich alle in der ersten Gruppe befanden. Dabei musste ich ständig fürchten, in die dritte Leistungsgruppe abzurutschen. Einmal sollte ich im Mathematik-Unterricht an der Tafel ein Beispiel vorrechnen. Ich hatte keine Ahnung und brach in Tränen aus. »Ich will nicht in die dritte Leistungsgruppe, ich will nicht in die dritte Leistungsgruppe«, schluchzte ich. In der dritten Leistungsgruppe wäre ich der einzige Schüler meiner Klasse gewesen, was auch daran lag, dass damals alle guten Schüler in die eine Klasse gesteckt wurden und die schlechten Schüler in die andere. Als Schüler des Mittelmaßes fiel ich diesem selektionsartigen Einteilungsprozess, der nur schwarz oder weiß kannte, zum Opfer. Für die schlechte Klasse war ich zu gut, und für die gute Klasse war ich zu schlecht. Am Ende landete ich in der guten Klasse, war dort aber der Schlechteste unter lauter Einser-Schülern.
Im Sport konnte ich auch nicht mithalten. Bei Völkerball oder Fußball wählten mich die anderen immer als wenn nicht Letzten, als Vorletzten unter großem Seufzen in die Mannschaft. Meiner ohnehin sensiblen Natur tat das gar nicht gut. Ich fühlte mich hilflos, ausgeliefert, allein gelassen und zog mich noch mehr zurück. Ich sprach während der ersten beiden Jahre in der Hauptschule mit fast niemandem meiner Mitschüler ein Wort.
Ab der dritten Klasse verbesserten der Deutsch- und der Geografie-Unterricht mein Selbstbewusstsein zumindest ein wenig. Beide Fächer unterrichtete eine Lehrerin namens Juliane Höfinger, die uns politische Bildung vermitteln und uns für das nationale und internationale politische Geschehen interessieren wollte. Die Erfolge der anderen Schüler in diesem Bereich waren mäßig, aber ich war aufgrund der elterlichen Prägung über alle politischen Entwicklungen genau informiert und sammelte so bei Juliane Höfinger Punkte. »Stefan hat es als Einziger gewusst«, sagte sie, wenn sie mit Verweis auf die darin enthaltenen politischen Fragestellungen unsere Tests zurückgab.
Es waren kleine Lichtblicke in meiner Isolation. Doch selbst bei diesen Gelegenheiten quälte mich das Stottern, das mir mittlerweile als Problem voll bewusst geworden war, und das mich alljährlich für einige Zeit heimsuchte, um dann ebenso leise und unauffällig wieder zu verschwinden, wie es gekommen war. Einmal war die Apartheid in Südafrika Thema. Nelson Mandela kam gerade frei, Frederik Willem de Klerk dankte ab und ein neues Zeitalter begann für das Land. »Wie hieß das abgelöste politische System in Südafrika?«, fragte Höfinger.
Schweigen in der Klasse. Ich wusste es aus den Nachrichten, die bei uns daheim nach wie vor Fixtermine für alle waren. Doch ich zögerte, meine Hand zu heben. Ich wusste wie jeder Stotterer, dass jedes Wort, das mit einem Vokal beginnt, besonders schwierig ist. Sekunden verstrichen. Juliane Höfinger streifte mich mit einem halb fragenden Blick.
Auf die Toleranz meiner Mitschüler in Sachen Stottern konnte ich in der Hauptschule nicht zählen. Besonders Klaus, der beliebteste Junge in unserer Klasse und Klassensprecher, war in dem Punkt gnadenlos. Er stellte mich regelmäßig bloß und hänselte mich dafür, was mein Problem nur noch schlimmer machte. Mir fiel auch keine Möglichkeit ein, das »A« in »Apartheid« durch eine andere Satzkonstruktion zu umgehen.
Ich lasse mich davon nicht unterkriegen, ich kriege das weg und dann werde ich Generalsekretär der FPÖ unter Haider, dachte ich während Höfinger das Wort in den Raum schmetterte, das ich die ganze Zeit im Kopf gehabt hatte.
Daheim sahen wir uns in dieser Zeit einmal eine Übertragung einer Nationalratssitzung an. Mein Vater saß in seinem Couchsessel und ich auf der Ofenbank direkt