"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen.". Gusti Adler
war ihm verhasst. Er verlieh den Dichtern, die das große Glück hatten, für ihn und mit ihm arbeiten zu dürfen, Schwingen, die sie mit ihm zum Erfolg trugen. So ist auch das Mirakel in seinen stärksten Wirkungen sein geistiges Eigentum. Sein Anteil an Jedermann, am Salzburger Grossen Welttheater und zahllosen anderen Dichtungen geht weit über die Arbeit des Regisseurs hinaus.
Dieser Einfluss beschränkte sich nicht nur auf das Dichterische. Für Max Reinhardt umschloss die Vision eines Werkes, das er inszenierte, alles: Handlung, Klang, Farbe, Rhythmus und den Rahmen für das Geschehen. Auf diesem Einklang, dieser Harmonie beruhte die erschütternde Wirkung seiner Inszenierungen. Er übte entscheidenden Einfluss auf Maler und Baumeister, Musiker und Choreographen aus. Was er in nächtlicher Arbeit entworfen hatte, wurde bei der nächsten Zusammenkunft mit seinen Mitarbeitern verteilt und verarbeitet. Seine Kraft nährte die Schöpfung, die, gleichsam eingeschlossen in eine schillernde Blase, ihr eigenes Leben führte, eine Welt für sich bildete.
Von seinen Zeichnungen ist leider wenig erhalten. Sie ergänzten seine Regiebemerkungen, die naturgemäß auch Zeichen für begleitende Musik einschlossen. Er hatte Zeichen für Schweigen, für Pausen, Lärm und Steigerung. Seine Regiebücher gleichen Partituren. In den Notizen für seine Selbstbiographie fand sich Reinhardts eigene Beschreibung der Arbeit an einem Regiebuch:
Das Regiebuch. Man liest ein Stück. Manchmal zündet es gleich. Man muß vor Aufregung innehalten im Lesen. Die Visionen überstürzen sich. Manchmal muß man es mehrfach lesen, ehe sich ein Weg zeigt. Manchmal zeigt sich keiner. Dann denkt man an die Besetzung der großen und kleinen Rollen, erkennt, wo das Wesentliche liegt. Man sieht die Umwelt, das Milieu, die äußere Erscheinung. Manchmal muss der Schauspieler der Rolle angepaßt werden, wenn das möglich ist. Manchmal die Rolle dem Schauspieler. Das gelesene, das gespielte Stück. Niemals eine absolute Congruenz. Idealfall, wenn der Dramatiker für seine Schauspieler schreibt, ihnen die Rollen auf den Leib schreibt. Shakespeare, Molière (für sich selbst), Nestroy, Scholz. Der Dramatiker als Regisseur. (Die Franzosen.) Die Objektivität fehlt. Schließlich hat man eine vollkommene optische und akustische Vision. Man sieht jede Gebärde, jeden Schritt, jedes Möbel, das Licht, man hört jeden Tonfall, jede Steigerung, die Musikalität der Redewendungen, die Pausen, die verschiedenen Tempi. Man fühlt jede innere Regung, weiß, wie sie zu verbergen und wann sie zu enthüllen ist, man hört jedes Schlucken, jeden Atemzug. Das Zuhören des Partners, jedes Geräusch auf und hinter der Szene. Der Einfluß des Lichtes. Und dann schreibt man es nieder, die vollkommenen optischen und akustischen Visionen wie eine Partitur. Man kann kaum nachkommen, so mächtig drängt es an, eigentlich geheimnisvoll, ohne Überlegung, ohne Arbeit. Begründung findet man später. Man schreibt es hauptsächlich für sich. Man weiß gar nicht, warum man das so oder anders hört und sieht. Schwer aufzuschreiben. Keine Noten für Sprechen. Erfindet seine eigenen Zeichen. Der gute Schauspieler, den man kennt, steht vor einem. Man komponiert ihn hinein, weiß, was er machen kann und wie und was er nicht kann. Man spielt alle Rollen. Dann liest man das Geschriebene vor der Probe durch, ändert das und jenes, fügt hinzu. Aber das ist gewöhnlich wenig. Man spricht mit den Schauspielern über ihre Rollen, sagt das Wesentliche. Dann kommt die Leseprobe. Man sagt keine Details, nur denen, die man schon genau kennt. Aber man macht ihnen Lust. Kardinalfrage: sie müssen glücklich sein, freudig, zuversichtlich, müssen an sich, ihre Rolle glauben – auch der, der die kleinste hat. Man hört zu, kriegt neue Ideen; mancher Zufall spielt mit. Manche ärgern sich. Sind wütend über ihre Rollen. Einige lachen, weinen außerhalb ihrer Rollen. Man belauert sie, fischt, hält fest. So müssen Sie schreien, schweigen, aufbrausen in dieser und jener Szene, wie Sie es jetzt getan haben, als Sie sich über die Rolle beklagt haben. Man verhaftet Tonfälle, Bewegungen, spioniert. Manche wollen Hintergründiges hören, tiefere Absichten. Viele wollen nur edle Charaktere spielen. Ein großer Schauspieler lehnt den Cassius im Cäsar ab, weil er »Dreck am Stecken« hat. So was kann er und will er nicht machen. Einige haben eigene Ideen, wollen den lustigen Teufel durchaus als gefallenen Engel spielen. Tragisch, großartig. Man nickt interessiert, bestätigend. Die einzelnen Auffassungen haben selten irgendeine Wichtigkeit, aber man nimmt sie wichtig. Man läßt sich überzeugen. Manche spielen gleich etwas vor. Das ist schon wichtiger, interessanter und oft irgendwie zu verwerten. Dann kommen Proben, in denen die Schauspieler lesen. Manche lesen lange, lernen schwer. Man sagt die Stellungen, spricht über die Absichten des Dichters, legt Tempo, das allgemeine fest. Dann überläßt man am besten einige Proben dem Assistenten. Das ist gut. Der Schauspieler fühlt sich freier, weniger bedrängt. Der Assistent überwacht den Text, die Stellungen, die Hauptaktionen und läßt die Schauspieler möglichst ihre eigenen Wege laufen. Diese ersten, zweiten, dritten, vierten Proben sind meistens langweilig. Kampf mit dem Text, mit dem Gedächtnis. Dann kommt man, hört zu. Manches ist neu, interessant, persönlich geworden. Man ändert, verwirft, baut manches neu auf. Man hat von vielem ein neues Bild, spricht mit dem Autor, findet heraus, was für den und jenen Schauspieler geändert, gestrichen oder neu aufgebaut werden muß. Alles ist im Fluß. Nun beginnt die Arbeit. Man rückt mit den Einzelheiten heraus, probiert, legt fest. Über die Bereicherung des Tonfalls, der Melodie der Sprache. (Das Tempo von Kainz. Rasend, ohne Interpunktionen. Phänomenales Gedächtnis. Jüdischer Tonfall. Ich kann, Sie müssen. Das ist der Unterschied. Tonfälle und Gebärden der Duse und ihr Einfluß auf nordische Schauspielerei. Rossi, Novelli. Die heisere Stimme in der Erregung. Das gleichzeitige Sprechen. Die Pausen: Lears Erwachen, Cordelia. Antoine [Gespenster]: Gänge um das Zimmer. Einwirkung auf Hauptmann.) Die Bedeutung der Pause: das Wichtigste im Sprechen wie das Stehenbleibenkönnen das Wichtigste beim Skilaufen ist. Ein Pferd zügeln. Die Steigerung nach unten. Die vollkommene Auflösung der Interpunktion. Komma: undramatisch, akademisch, buchmäßig. Das Dramatische ist der Punkt mitten in einem Satz. Das Denken, das Bilden eines Gedankens. Seine Entstehung, das Suchen nach Worten, namentlich, wenn sie ungewöhnlich sind. Das Zuhören. Das In-die-Augen-Sehen. Wie es den Ton verändert. Wie Füße, Hände, Blicke reden. Das Gehenkönnen in der Erregung. In der Ruhe. Der Stellungswechsel. Das Spielen mit dem Requisit. Möbel, Tische, Stühle, Wände einbeziehen als Ausdrucksmittel. Nichts Zufälliges. Kein Möbel, das nicht mitspielt, nur als Dekoration verwendet wird. Da jede Bewegung, jeder Blick, jeder Gang, jede Pause etwas bedeuten und ausdrücken muß, keine zufälligen, nichtssagenden Blicke, Gänge, Bewegungen, Pausen. Äußerste Sparsamkeit wie mit dem Wort, dessen letzte Knappheit eine Vorbedingung für das Drama ist. (In der Oper noch weniger Bewegungen.) Deutlichkeit, Plastik, Monumentalität. Die Schauspieler haben alles mitzuteilen. »Sie müssen alles ausplaudern« (Shakespeare), wenn auch nicht vorzeitig. Jago darf nicht als Schuft wirken (der er ist, nur aus eingeborener Lust am Bösen, ohne sichtlichen Gewinn für sich selbst), sondern als grober Biedermann, Brustton, der kein Hehl aus seinem Herzen machen kann. Ein wirklicher Säufer, der dem Laster des Trunks ergeben ist, darf nicht torkeln. Er bemüht sich, sein Laster zu verbergen. Er ist korrekt gekleidet und versucht besonders nüchtern und beherrscht zu wirken. Der Professor bei Krafft-Ebing vor den Studenten (Munch). Nur der den Narren spielt, will närrisch wirken. Der wirkliche Narr erscheint zunächst gar nicht närrisch. Irgendeine zufällige Wendung, eine plötzliche, unerwartete und unbegründete Erregung verrät ihn. Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Kindern und Tieren …
Man versucht das und jenes, hält sich nie eigensinnig an das, was man aufgeschrieben hat, bleibt offen für alles, schon um dem Schauspieler den weitesten Spielraum zu geben und um ihm vor allem Lust und immer wieder Lust zu machen. Denn dann wird er am besten sein. Kritik ist eine gefährliche, oft tödliche Waffe. Brahm hatte fast immer recht. Er war der beste, fast unfehlbare Kritiker. Aber er deprimierte. »Legen Sie großen Wert auf die Nuance? Lassen Sie sie weg.« Der Schauspieler ist ein Mondwandler. Er spaziert im Traum an gefährlichen Abgründen.
Max Reinhardt wiederholte sich nie. Er komponierte dramatischen Konflikt, von Musik und Licht getragen, in den jeweiligen Raum. Die gigantischen Dimensionen der Olympia Hall bedingten eine andere Auffassung des Mirakels als spätere Aufführungen in anderen Räumen. Dort wohnten 10 000 Menschen Tag für Tag dem Schauspiel bei. Die einfache Legende entrollte sich in einer Arena, die mit ihrem Schaugepränge wie ein mittelalterlicher Gobelin den Hintergrund für die aufregende Traumhandlung bildete. Mirakel-Gastspiele in allen großen Städten Europas folgten dem Triumph der Uraufführung in England. 17 Aufführungen, die Variationen über das ursprüngliche Thema darstellen. Ein Gastspiel in Amerika – New York – war für den 9. Dezember 1914 angesetzt.