Reine Nervensache. Martin Arz

Reine Nervensache - Martin Arz


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Sie nicht lieber einen Anwalt anrufen?«

      »Brauche ich denn einen Anwalt?«

      »Nein.« Pfeffer sah seine Kollegin an und schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Sie können nach Ihrer Aussage nach Hause gehen und tun, was immer Sie wollen. Wir werden Sie nicht festhalten. Ich muss Sie nur bitten, die Stadt nicht zu verlassen, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben. Ein Kollege wird Sie nachhause begleiten, denn wir brauchen die Kleidung, die Sie jetzt tragen fürs Labor. Und natürlich auch die Kleidung, die Sie anhatten, bevor Sie die geliehenen Klamotten angezogen haben.«

      Jo Wagenbrenner nickte.

      »Nun aber zu den entscheidenderen Fragen: Welches Verhältnis hatten Sie zu Herbert Veicht und wieso hatten Sie seinen Kopf in der Tasche?«

      »Der Veicht war ganz okay. Ich meine, ich habe ihn nicht so gut gekannt. Er und sein Kompagnon sind so richtige Freaks, die spinnerte Ideen ausbrüten und umsetzen. Hauptsache schrill, Hauptsache anecken. Wie jetzt das mit dem Operations-TV. Sie werden Schönheits-OPs verlosen und mit der Kamera dabei sein.«

      »Krank«, entfuhr es Annabella.

      »Ja, nicht? Der Gag dabei ist, dass sich nur Eltern bewerben können, die ihren minderjährigen Töchtern einen größeren Busen oder eine Stupsnase oder Ballonlippen oder so als Überraschung schenken wollen.«

      »Absolut krank«, sagte Annabella.

      »Krank oder nicht, Sie haben meine Fragen nicht beantwortet«, sagte Pfeffer.

      Jo zog den Kopf leicht ein. »Wie gesagt, Veicht kannte ich nicht gut genug. Er war mir egal. Ich hatte meistens nur mit den Produktionsassistenten zu tun. Und wie der Kopf … ich weiß nicht. Ich hatte die Anweisung, mich ab achtzehn Uhr bereitzuhalten. Ich war im Büro von Veicht-Productions und wurde dort gestylt. Es hieß, die präparierte Tasche läge in der Requisitenkammer bereit. Das ist eigentlich keine Kammer, sondern ein großes Kellergewölbe, das zum Büro dazu gehört. Dort war die Tasche an dem angegebenen Platz gestanden. Ich habe sie nur genommen und bin zur Tankstelle.«

      »War jemand dabei?«

      »Nein, ich bin die Treppe hinunter und habe die Tasche genommen.«

      »Und Sie haben nicht mal reingeschaut, ob auch wirklich ein Kopf drin ist?«

      »Doch, ganz kurz, ich habe den Reißverschluss ein wenig geöffnet und als ich die Haare gesehen habe, … na, ich dachte halt, das ist alles künstlich.«

      »Wer hat alles Zugang zu dem Keller?«

      »Jeder. Das Büro ist im Parterre, die Kellerräume sind über eine Wendeltreppe frei zugänglich. Da ist nichts abgesperrt. Wenn Sie mit Ihrer Frage andeuten wollen, dass jeder die Tasche hätte austauschen können, liegen Sie absolut richtig.«

      Pfeffer, Scholz und Freudensprung sahen sich im Requisitenkeller der Fernsehproduktionsfirma um.

      »Ihre Kollegen von der Spurensicherung haben schon alles fotografiert und analysiert«, sagte Sigi Roß, der Ausstatter. Er war ein kleiner, kräftiger Mann Mitte dreißig. Sein Dreitagebart schien Standard zu sein und kein Zeichen einer schlaflosen Nacht – im Gegensatz zu seinen verquollenen Augen. Sigi Roß war in der Nacht noch mit Paul Freudensprung durch das gruselig gestaltete Haus gegangen und hatte dem Kriminaler alles erklärt. Dann waren die beiden Männer so sehr ins Ratschen geraten, dass sie sich schnell duzten und schließlich in die Stadt gefahren waren, um die restliche Nacht fachsimpelnd in einem Nachtcafé zu verbringen. Dabei hatten sie ihre Lieblingsschockerfilme durchgehechelt, allen voran Sieben, an dessen Ende der von Brad Pitt verkörperte Titelheld den abgetrennten Schädel seiner Frau per Postpaket erhält.

      Der Ausstatter klopfte mit der Hand auf eine Styroporsäule. »Da, genau hier hin habe ich die präparierte Reisetasche gestellt, bevor ich gestern heimgegangen bin. Und heute finden Ihre Leute meine Tasche da hinten zwischen den ganzen Kisten und Kartons.« Sigi Roß deutete in eine Ecke. »Mein Kunstkopf war noch so drin, wie ich ihn hergerichtet hatte.«

      »Hier kann wirklich jeder herein kommen und austauschen, was er will«, mischte sich Dieter Koziol ein, den die Nachricht vom Tod seines Geschäftspartners sichtlich mitgenommen hatte. Er schwitzte und tupfte sich ständig mit einem weißen Stofftaschentuch die Stirn und die Oberlippe. Seine Haare waren viel zu dunkel für seinen Hauttyp gefärbt, zudem kam der graue Ansatz zum Vorschein. Der große Mann schob einen beachtlichen Bauch vor sich her und sein Doppelkinn wabbelte bei jedem Wort. »Das hier ist keine Requisitenkammer im eigentlichen Sinn. Das könnten wir uns gar nicht leisten. Für so was haben wir unsere freien Mitarbeiter.«

      »Freischaffende Requisiteure wie ich haben selbst ein großes Lager«, ergänzte der Ausstatter. »Bei Produktionen muss ich immer selbst alles mitbringen oder auftreiben. Ist so in der Branche.«

      »Meine Rede«, sagte Koziol. »Wir benötigen den Keller hauptsächlich für unsere Unterlagen. Darf ich Sie nun nach oben in mein Büro bitten? Ich würde mich gerne ein wenig setzen.«

      Für einen Mann seiner Leibesfülle legte er ein erstaunliches Tempo vor, als er die Treppen hochstürmte und durch die Büroräume lief. Die drei Kriminalbeamten blieben etwas zurück und sahen sich in dem Büro beiläufig um. Doch außer auffallend jungen, hauptsächlich telefonierenden Mitarbeitern beiderlei Geschlechts gab es nicht viel interessantes zu sehen. Dann kamen sie durch einen großen Konferenzraum, dessen Tür der durcheilende Dieter Koziol offen gelassen hatte. In dem mit einem Paravent geteilten Raum saßen zunächst zwei Frauen und ein Mann an einem Tisch und notierten sich etwas; vor ihnen standen zwei Kerle mit heruntergelassenen Hosen und präsentierten ihre Männlichkeit. Der eine kaute gelangweilt Kaugummi und hielt ein Zentimetermaß an seinen Penis. »Hab ich doch gesagt, siebzehnkommasieben.« Er hob triumphierend den Blick und reckte das Kinn vor.

      »Da sind ja Elefantenrüssel nix dagegen!«, flüsterte Freudensprung, der mit offenem Mund schamlos hingestarrt hatte, Pfeffer zu. »Noch dazu schlaff. Möchte nicht wissen, wie die stehen. Hast du solche Riesendinger schon mal gesehen?«

      »Ja«, sagte Pfeffer, »habe ich. Interessant wäre jetzt, warum du so hinstarrst, oder?«

      Annabella Scholz kicherte. »Ich kann dazu nichts sagen. Ich habe gar nicht hingeschaut.«

      »Typen mit der Ausstattung kriegen bestimmt jede«, sagte Freudensprung leise.

      »Von wegen«, antwortete die Scholz. »Auf solche Monster steht keine Frau!«

      »Ich dachte, du hättest nicht hingesehen.«

      Hinter dem Paravent saßen ebenfalls zwei Frauen und ein Mann und machten sich Notizen; vor ihnen standen fünf junge Frauen mit nackten Oberkörpern, die eine vermaß ihren Brustumfang und sagte: »Hundertsechzehnkommadrei.« Pfeffer schmunzelte, als er bemerkte, dass Freudensprung diesmal verbissen wegschaute.

      »Entschuldigen Sie, meine Herren.« Koziol drängte die Polizisten in sein Büro. »Ich hatte ganz vergessen, dass hier das Casting für Sizequeen und Sizeking läuft. Wir machen seit kurzem ein neues Format für die Spätnachtschiene von RTL. So eine Anrufshow. Bisher präsentieren wir reizende Damen oben ohne und die Anrufer können raten, wie viele Zentimeter und Millimeter. Wer es richtig geraten hat, gewinnt dann einen Geldbetrag. Das ist schnell Kult geworden, wir haben Traumquoten für ein Nachtprogramm. Natürlich kostet jeder Anruf neunundvierzig Cent, damit verdient sich der Sender eine goldene Nase. Jetzt machen wir als ausgleichende Gerechtigkeit das gleiche Prinzip für Frauen. Wir präsentieren die längsten Schwänze Deutschlands. Natürlich zeigen wir nur den schlaffen Zustand! Alles, was mehr als einen Winkel von 45 Grad hervorsteht, ist bekanntlich Pornographie und wird von uns nicht gesendet.« Koziol machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ sich in einen Ledersessel plumpsen. Den beiden Kriminalern wies er einen Sitzplatz zu. »Seitdem hockt uns die Kirche auf dem Schoß und empört sich maßlos, die Medienwächter fallen über uns her, aber auf der anderen Seite hatte noch keine Nachtshow so hohe Einschaltquoten und außerdem rennen uns die Mädels mit ihren Riesenhupen und die Kerle mit ihren Monsterdödeln die Bude ein. Jeder will mal sein Ding in die Kamera halten. Man sollte meinen, wir sind ein Volk von Exhibitionisten. Und soll ich Ihnen was sagen? Mehr


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