Reine Nervensache. Martin Arz

Reine Nervensache - Martin Arz


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Kollegin Annabella Scholz herbei, denn mit dem Mädchen im Arm konnte er sich keine Notizen machen, das musste nun die Kollegin übernehmen.

      Als sie geendet hatte, kam Benni, der die ganze Zeit apathisch am Van seines Onkels gelehnt hatte, herüber und streichelte sanft Nathalies Rücken. »Es tut mir so leid«, flüsterte er heiser. »Ich bin …«

      »Pfoten weg, du Arsch!«, schrie Nathalie und löste sich von Pfeffer gerade so weit, dass sie noch Körperkontakt hatte und gleichzeitig freie Bahn, um Benni eine herunterzuhauen. Die Ohrfeige schallte so laut, dass die Personen in der näheren Umgebung überrascht herüberschauten. »Du hast das doch alles eingefädelt! Du bist schuld an allem!«

      »Ja … nein … Mann, das ist mein Onkel!« Benni hielt sich die Wange und schrie nun ebenfalls. »Mein Onkel! Kapiert! Das ist sein Kopf! Es hätte ein Plastikding in der Tasche sein sollen, kapiert?! Mein Onkel wurde geköpft. Und du regst dich über das bisschen Brimborium auf, das die von dieser Scheißshow hier veranstaltet haben!« Er machte eine fahrige Handbewegung hinüber zu der Gruppe Menschen, die bleich wie Schreckgespenster und scheu wie verlorene Schafe im Licht der Scheinwerfer standen und darauf warteten, von Pfeffers Leuten vernommen zu werden. Es handelte sich um den Kameramann, den Moderator, die Produktionsassistentin und den Redakteur von Voll geschockt!.

      »Sie sind Benjamin Veicht? Der Neffe des Ermordeten?«, fragte Pfeffer sachlich, um die Emotionen etwas herunterzukochen. Der junge Mann nickte.

      »Benjamin Veicht, neunzehn Jahre«, las Bella Scholz von ihrem Notizblock ab. »Geht wie alle jungen Leute hier – und übrigens wie dein Sohn, Chef –, auf das Geschwister-Scholl-Gymnasium in München, macht nächstes Jahr Abitur. Ich habe ihn schon vernommen, Chef. Der Ermordete ist sein Onkel, Herbert Veicht, Produzent von Voll geschockt! und zahlreichen anderen Reality-Formaten. Der Bruder von seinem Vater Hans-Georg Veicht. Falls dir der Name was sagen sollte – ja, das ist der Veicht von Veicht-Optik. Du weißt schon, das Billigbrillenimperium.«

      Zu allem, was die Kommissarin sagte, nickte Benni bestätigend.

      »Voll geschockt! finden doch alle voll cool!«, plapperte der junge Mann drauflos. »Das ist nicht so spießig wie die anderen Reinlegshows. Ich wollte schon immer mal dabei sein und habe meinen Onkel bekniet, dass ich irgendwann mal den Lockvogel spielen darf. Und heute … Mann, das ist sein Van, der für die Sendung präpariert war, versteckte Kameras in den Kopfstützen und im Armaturenbrett. Ich dachte, Nathalie und Frank finden das auch voll cool, wenn sie erfahren …«

      »Frank hat sich vor Schiss in die Hose gepisst, du Arsch!«, schrie Nathalie ihren Freund an. »Wir sind beide vor Panik fast gestorben, auch ohne den echten Toten. Ist das cool? Ist das cool?«

      »Kann ja keiner ahnen, dass Frank so voll rummädelt, der Schwachmat!«

      »Rummädelt? Du Arschloch!«, schrie das Mädchen.

      »Ganz ruhig«, sagte Pfeffer beschwichtigend. »In der Situation war es nur normal, dass jemand … rummädelt, Herr Veicht.« Der Notarzt gesellte sich mit seinem Koffer zu der kleinen Gruppe. Er löste behutsam das Mädchen aus den Armen des Kriminalrats.

      »Kommen Sie mit«, sagte der Arzt. »Wir setzen uns dort drüben hin und dann werde ich Sie untersuchen.« Nathalie folgte ihm artig wie ein Kind.

      »Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken«, sagte Pfeffer und tätschelte Benni Veicht den Arm. »Wirklich nicht.« Er bemühte sich nur marginal, nicht allzu zynisch zu klingen, dann ging er mit seiner Kollegin zum Haus. Paul Freudensprung gesellte sich zu ihnen.

      »Wenn deine Freundin Gerda Pettenkofer mich noch einmal Gaudi nennt, ist sie tot«, grummelte er.

      »Und wieso, Gaudi?«, frotzelte Annabella Scholz.

      »Okay, Leute.« Pfeffer blieb kurz stehen, schnippte seine Zigarette auf den Asphalt und trat sie aus. »Alles zu seiner Zeit und jetzt ist wirklich nicht die Zeit für solche Empfindlichkeiten und Sticheleien. Paul, seit wann wirst du Gaudi genannt? Doch bestimmt schon seit der Schulzeit, oder? Jedenfalls mehr als zwanzig Jahre. Du bist alt genug, um dich nicht mehr daran zu stören, dass jeder dich Gaudi nennt – das ist ein verdammt netter Spitzname. Finde ich jedenfalls. Also bitte!«

      »Du solltest auf den Chef hören, Gaudihupf«, sagte Bella.

      »Bella!«, rügte Pfeffer.

      »Was denn?!«

      »Okay.« Freudensprung machte eine übertrieben hilflose Geste. »Dann nennt mich doch, wie ihr wollt. Wollt ihr nun mit ins Haus?«

      Sie betraten das kleine Gebäude wie die Jugendlichen durch die Terrassentür. »Ich habe schon den Ausstatter der Show aus dem Bett klingeln lassen, der ist hierher unterwegs und kann mir dann sicher erklären, woher er all diese Präparate in der Küche hat. Wäre mir jedenfalls neu, dass missgebildete Menschenembryonen für jeden käuflich erwerbbar sind.« Er deutete auf die Gläserpyramide. »Außerdem wird es wirklich spannend, was er dazu zu sagen hat, dass statt dem Plastikkopf, den er angeblich präpariert hat, der abgeschnittene Schädel seines Chefs in der Reisetasche liegt. Der Typ hat mir gleich am Telefon erzählt, dass er sich bei der Innendekoration hier an den üblichen Filmklassikern orientiert hat, ein wenig Sieben hier, ein bisschen Freitag der 13. da, ein Schuss Psycho und noch eine Prise Das Schweigen der Lämmer. Die Kinder haben übrigens längst nicht alles entdeckt. Im Kühlschrank hätte es zum Beispiel noch modernde Schweinedärme gegeben und in der Wohnzimmeranrichte blutverkrustete chirurgische Instrumente. Das Haus gehört einer gewissen Martha Benzengruber. Eine alte Frau, die hier alleine lebt. Sie hat das Haus an die Produktionsfirma von Veicht vermietet und wurde für eine Woche in ein Hotel in München einquartiert, damit alles gruselig hergerichtet werden konnte. Natürlich müssen die hinterher wieder alles renovieren und in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen.«

      Die Polizisten schlenderten durch die Räume und sahen sich gründlich um. »Hier sind überall versteckte Kameras angebracht. Da, in der ausgestopften Katze zum Beispiel, oder hier in der Lampe oder da.« Er deutete auf verschiedene Kameraverstecke. »Und sie haben sogar mit einem starken Störsender den Handyempfang unmöglich gemacht, damit niemand zur unpassenden Zeit telefonieren kann.«

      »Irgendwie krank der ganze Aufwand, oder?« Bella Scholz sprach aus, was alle dachten. »Alles nur, um Jugendliche an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen.«

      »Nein, alles nur, um Quote zu machen«, korrigierte Freudensprung. »Schaust du manchmal abends MTV oder Viva? Da kommen lauter so debile Schock-Shows. Und den extremen Aufwand haben sie diesmal nur deshalb betrieben, weil das die Jubiläumssendung werden sollte.«

      »Gut«, sagte Pfeffer. »Das hier ist ja offensichtlich nicht der Tatort. Zeig mir noch, was draußen wichtig ist.«

      »Dort drüben im Unterholz hat das Filmteam gewartet, die haben im Dickicht einen getarnten Unterstand gebaut, dort konnten sie mit kleinen Monitoren alles verfolgen, was sich im Wagen oder im Haus tat. Von Anfang an.«

      »Ich will alle Aufzeichnungen, von allen Kameras«, sagte Max Pfeffer. »Längst in die Wege geleitet«, entgegnete Freudensprung lässig. »Okay, der vorgebliche Axtmörder heißt Jonas Wagenbrenner, nicht Joseph, wie er die Jugendlichen hat glauben lassen. Alle nennen ihn Jo, das ist wirklich sein Spitzname. Er sprang jedenfalls aus dem Auto, lief durch den Garten um das Haus herum und hinten durch eine Lücke im Zaun hinüber zu dem Unterstand, wo er sich beim Filmteam versteckte. Während die zwei, also Nathalie Castorff und Frank Jobst, im Haus waren, ist Benjamin Veicht, der als Lockvogel in alles eingeweiht war, ebenfalls in den Unterstand und hat das Auto offen zurückgelassen, damit sein Verschwinden für zusätzlichen Schockeffekt sorgt. Von dort haben sie dann die Attacke auf das Auto gestartet und das große Finale, das die Erlösung bringen sollte.«

      Das kleine Team hatte seinen Rundgang beendet. Pfeffer fiel auf, dass eine riesige Luxuslimousine der obersten Klasse im Schritttempo beinahe lautlos heranrollte und neben dem Notarztwagen zum Stehen kam. Ein Mann um die Fünfzig mit nach hinten gegelten, schulterlangen Haaren stieg langsam aus und sah sich suchend um. Er trug ein rosafarbenes Poloshirt und eine marineblaue Sommerhose mit Bügelfalte. Als er Pfeffers Blick


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