Der Gottstehunsbei. Martin Arz
der in dem kahlen Raum stand. Das Parlatorium, nur hier durften weltliche Besucher empfangen werden. Die Schwester war noch jung, doch alles an ihr strahlte Leid aus. »Ich werde die hochwürdige Mutter informieren.« Dann faltete sie ihre Hände unter der weißen Schürze über den dicken Wanst und rauschte davon. Tassilo setzte sich. Er kannte das Prozedere von seinen Besuchen. Es gab nur eine Sitzgelegenheit, damit niemandem einfiel, es sich gemütlich zu machen und damit die Sprechzeiten mit Klosterschwestern kurz blieben.
»Mein lieber Tassilo!«, rief die Äbtissin erfreut aus, als sie das Parlatorium schwungvoll mit dem nonchalanten Selbstbewusstsein einer Frau von Macht und Einfluss betrat. Hinter ihr schlurfte die Schwester Pförtnerin herein.
»Hochwürdige Frau Margaretha.« Tassilo verbeugte sich und deutete einen Kuss auf die ihm hingestreckte Hand mit dem Siegelring an. Die Hand roch nach Salbei. Die Pförtnerschwester schenkte ihm einen verachtenden Blick und verließ den Raum.
»Verzeiht, Hochwürdige, aber kann es sein …«, Tassilo kratzte sich am Kinn, während er der Schwester Pförtnerin hinterherschaute, »… kann es sein …« Er brach ab. Ihm lag eine dumme Frage auf den Lippen, die sich nicht geziemte.
»Kann was sein, mein lieber Tassilo?«
»Nichts. Verzeiht.«
»Gut. Selbstverständlich ist mir der Grund Eures Besuchs bekannt. Doch bei unseren letzten Treffen hatten wir kaum Gelegenheit zu sprechen.«
»Bei offiziellen Anlässen seid Ihr eine begehrte Gesprächspartnerin, Hochwürdige. Es ist schwierig, zu Euch vorzudringen.«
»Ach was.« Die Äbtissin winkte für ihr Amt eindeutig zu kokett ab. »Sagt, Tassilo, sagt mir zunächst, wie geht es Euch, wie stehen die Geschäfte?«
»Alles bestens, Hochwürdige. Ich arbeite an einem neuen Lied. Und die Geschäfte laufen blendend, da ganz München baut. So tragisch der Brand letztes Jahr auch war, er zahlt sich für uns aus. Unsere Ziegelöfen brennen von Frühmorgens bis spätabends. Alle brauchen gebackene Steine. Die Bestellungen reichen bis weit ins nächste Jahr hinein.«
»Wie wunderbar. Und was machen die liebe Gurkenhemma und der liebe Bub Christoffel?«
»Hemma betet inzwischen zu so vielen neuen Heiligen, dass ich den Überblick verloren habe. Und sie ist einfältig wie immer. Aber sie sorgt für mich wie eine Mutter. Stoffel gedeiht prächtig, er ist ein richtig strammer Bursche geworden, fast schon ein Mann. Er ist sehr geschickt und alles andere als einfältig. Ihr wisst, dass ich ihm das Lesen und Schreiben beigebracht habe?«
»Ach, die Jugend! Ja, lasst ihn lesen und schreiben, wenn er möchte, Tassilo. Solange es gottgefällige Texte sind. Hier«, sie zog ihre linke Hand unter der weißen Schürze hervor und überreichte einen kleinen Kuchen. »Den habe ich der Schwester Köchin aus der Vorratskammer stibitzt.« Sie kicherte schelmisch. »Gebt ihn dem Stoffel. Den mag er gewiss.«
»Alle jungen Burschen mögen Kuchen. Ihr seid zu gütig, Hochwürdige.«
»Er ist ein armes Findelkind, er hat alle Güte der Welt verdient.«
»Sicher, Hochwürdige.« Tassilo sah zu Boden.
Die Äbtissin wurde ernst. Sie blickte kurz zur Tür und senkte die Stimme. »Hör zu, lassen wir die Formalitäten, Tassilo. Lass uns wie früher reden.«
»Wie Ihr … wie du meinst, werte …« Er brach ab, als sie verärgert ihr Gesicht verzog.
»Die erschütternden Nachrichten aus Oberhaching beunruhigen mich«, sagte Äbtissin Margaretha. »Als ich davon erfuhr, war mir klar, dass ich nur einem wirklich vertrauen kann, die Dinge dort aufzuklären. Dir.«
»Das ehrt mich, Marga, aber ich bin sicher nicht die beste Wahl. Irgendeine Bestie, sei es Mensch, sei es Tier, sei es ein Dämon, hat einen Bauern zerteilt. Das kann am besten der Richter vor Ort aufklären …«
»Dieser Ludwig Gröbner?« Die Äbtissin schnaubte verächtlich. »Was für ein selbstverliebter Stutzer.« Sie bekreuzigte sich sofort und murmelte irgendwas von »Vergebung« zum Herrgott. »Gut, ich möchte seine Fähigkeiten nicht bezweifeln. Womöglich könnte er es tatsächlich irgendwie schaffen, einen Mord aufzuklären.«
»Du kennst den Landrichter aus Wolfratshausen?«
»Mein Lieber!« Die Äbtissin lachte mitleidig. »Was denkst du? Nur weil ich eine Klarisse bin? Armut und Demut beherrschen mein Leben hinter diesen Mauern. Ich bin aber die Äbtissin des ältesten und größten Münchner Frauenklosters. Du musst doch zugeben: Wir beide sehen uns häufiger bei offiziellen Empfängen und Banketten als hier! Nächste Woche wieder. Beim Fest zu Ehren der Pfalzgräfin Beatrix.«
»Stimmt. Beatrix kommt in die Stadt«, grummelte Tassilo.
»Sie liebt die Jacobidult. Nun, wer liebt sie nicht, unsere Dult.« Die Äbtissin räusperte sich. »Im Übrigen suchen die Durchlauchten oft meinen Rat. Außerdem sehe ich zweimal im Jahr nach dem Rechten auf unseren Ländereien. Also, ja, ich hatte schon das eine oder andere Mal das Vergnügen, die Gesellschaft dieses Herrn Landrichters Ludwig Gröbner ertragen zu müssen. Zurück zum Thema. Es geht hier nicht um einen Mord. Es geht nicht darum, dass ein paar besoffene Bauern glauben, den Bilwis tanzen gesehen zu haben. Ja, ich habe davon gehört! Abergläubisches Pack. Getreidedämonen! Wer glaubt solchen Unsinn! Neulich war eine Schwester aus dem Böhmischen bei uns zu Gast, die hat von der Mittagsfrau erzählt, die Punkt zwölf Uhr mittags über die Felder geht und mit ihrer goldenen Sichel faule Erntehelfer köpft. Eine Mitschwester! Und dann abergläubisch! Heidnische Dämonen gibt es nicht. Den Teufel hingegen schon. Es geht darum, dass der Gottstehunsbei gesehen wurde. Der Gott! Steh! Uns! Bei! Was das einfältige Volk dem Leibhaftigen für einen Namen gegeben hat. Nun denn. Wenn sich der Leibhaftige zeigt, ist die Zeit des Tändelns vorbei. Dann müssen wir unverzüglich handeln, wir, die wir fest im Glauben sind. Keinen Fußbreit machen wir Platz für Satanas! Wenn er es denn ist. Das muss geklärt werden. Wobei ich kaum daran zweifle. Begreifst du, Tassilo, dass sich unsere Bauern nicht mehr auf die Felder trauen? Dass sie sich weigern, ihrer Arbeit nachzugehen? Sie verschanzen sich in ihren Höfen. Es ist fast Ende Juli! Bald kommt die Erntezeit. Was soll ich tun? Mal eben schnell eine Kutsche nach Taufkirchen oder Schäftlarn besteigen und dort nach dem Rechten sehen und das abergläubische Pack zum Arbeiten antreiben?«
»Zum Beispiel.«
»Ja, das könnte ich. Aber das nimmt ihnen nicht die Angst. Sicher, ich bin ihre Herrin, und sie würden sich meinem Willen beugen. Ich könnte ihnen Gottes Trostbotschaft erneut vermitteln, aber dazu haben sie ihre Pfaff… Dorfgeistlichen. Doch ich möchte Aufklärung, was wirklich passiert ist und vielleicht noch passiert. Ich möchte, dass mein Land nicht geschändet wird, dass mein Land wieder sicher ist.«
»Die Ernte ist ohnehin verregnet«, warf Tassilo ein.
»Rede nicht solchen Unsinn. Es kann immer noch etwas gerettet werden. Wovon sollen wir die Armen speisen, wenn wir nichts haben?«
»Die Sorge um die Armen treibt dich also um, Marga?« Tassilo lachte.
»Nein.« Sie sah ihm hart in die Augen. Sie war zehn Jahre älter als Tassilo. Um ihre Augen furchten feine Linien durch die Haut. »Die Sorge um unser Land. Es ist unser Land, verstehst du?«
»Ja, Vater hat es dem Kloster übereignet.«
Die Äbtissin schnaubte und tippte Tassilo auf die Brust. »Das Kloster … Darum geht es nicht. Es ist unser Land, mein Bruder. Stubenrußland. Und das gebe ich nicht kampflos auf.«
Tassilo sah seine ältere Schwester nachdenklich an. »Das Land hat Vater als Mitgift überschrieben, als du ins Kloster eingetreten bist.«
»Ich bin eingetreten? Nun ja, ich würde eher sagen, ich wurde eingetreten.«
»Ich dachte, du …«
»Du warst noch ein Kind, Tassilo. Du hättest das nicht verstanden. Und nun ist auch nicht der geeignete Zeitpunkt, darüber zu reden. Unser Vater hat mir damals befohlen, ins Kloster zu gehen. Also habe ich getan, was von einer braven Tochter erwartet wird, obwohl … Egal. Warum glaubst