Amokdrohungen und School Shootings. Armin Himmelrath
sechs Tage nach der Tat.
•9. November 1999 – Meißen (Sachsen): Ein 15-jähriger Gymnasiast, vermummt und in Schwarz gekleidet, stürmt in die Klasse 9 der Schule, um, mit zwei Messern bewaffnet, auf seine 44-jährige Geschichtslehrerin einzustechen (22 Stichverletzungen). Der Täter kann im Zuge der Sofortfahndungsmaßnahmen der Polizei festgenommen werden. Laut Gutachten leidet er an einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Motiv für die Tat soll eine Wette unter Schülern gewesen sein.
•5. Mai 1997 – Zöbern (Niederösterreich): Ein 15-Jähriger, der versucht, eine Schülerin zu vergewaltigen, erschießt eine 48-jährige Lehrerin, die dem Mädchen zu Hilfe kommt, und verletzt eine weitere Pädagogin durch einen Schuss ins Bein. Der Täter wird festgenommen und später zu acht Jahren Haft verurteilt.
Hier handelt es sich um keinen Schulanschlag im eigentlichen Sinn: Mit den Schüssen wollte der Täter in erster Linie die versuchte Vergewaltigung verdecken und, nach den Ergebnissen des Prozesses, nicht Rache am Schulsystem oder an bestimmten Personen nehmen.
•3. Juni 1983 – Eppstein: Ein 34-jähriger Wachmann dringt in die Freiherr-vom-Stein-Schule ein, tötet drei Schüler, einen Lehrer, einen Polizisten und verletzt weitere 14 Menschen. Der Täter bringt sich anschließend um.
•11. Juni 1964 – Köln-Volkhoven: Ein 42-jähriger Frührentner dringt, bewaffnet mit einem Flammenwerfer und einer selbst gebauten Lanze, in seine ehemalige Grundschule ein und ermordet acht Kinder und zwei Lehrerinnen. Weitere 20 Kinder werden zum Teil schwer verletzt. Der Täter wird angeschossen, stirbt aber letztlich an einem hochgiftigen Pflanzenschutzmittel, das er in Selbstmordabsicht eingenommen hat.
•20. Juni 1913 – Bremen: Ein mit mehreren Pistolen bewaffneter 30-jähriger arbeitsloser Lehrer stürmt die Mädchenschule. Fünf Schülerinnen im Alter von 7 und 8 Jahren werden getötet, 18 weitere Kinder und fünf Erwachsene werden verletzt. Der Täter wird später festgenommen.
•25. Mai 1871 – Saarbrücken: Ein Gymnasiast schießt mit seinem Taschenrevolver auf zwei Mitschüler, beide werden schwer verletzt. Der Täter wird anschließend festgenommen. Der Anschlag wird von einigen Experten als „Prototyp des School-Shootings“ bezeichnet.
Nachfolgend werden die Begriffe Amok, Amoklauf, Attentat und Schulanschlag näher erklärt, da es sich hierbei um nicht ausreichend eindeutige Begriffe handelt, die uneingeschränkt synonymisch verwendet werden können.
1.2Amok, School-Shooting, Attentat – Viele Begriffe für eine Tat
Delinquenz nennt man das Verhalten, das einer schweren Gewalthandlung zugrunde liegt. Gemeint ist damit sozial abweichendes, nicht der Norm entsprechendes Verhalten und insbesondere der Teilausschnitt, der strafrechtlich relevant ist. „Der Begriff ist wertneutraler als der der Kriminalität. Kriminalität ist die Gesamtheit aller Straftaten.”1 Jeder gezielte Angriff auf mehrere Opfer, bei dem ein schulisches Umfeld oder eine ähnliche Einrichtung wie ein Ausbildungszentrum, eine Hochschule oder ein Sportverein bewusst als Tatort ausgewählt wird, ist solch eine schwere zielgerichtete Gewalt, der ein hohes Maß an Delinquenz zugrunde liegt. Insbesondere bei Anschlägen im schulischen Bereich und mit hohen Opferzahlen wird auf Begriffe wie Amoklauf, Durchdrehen und wahllos um sich schießende Täter zurückgegriffen. Damit entsteht häufig das Bild eines planlos handelnden, nicht berechenbaren Täters – ein Trugschluss. Im Gegenteil haben schwere Gewalttaten an Schulen, die in der Öffentlichkeit in der Regel als Amokläufe bezeichnet werden, häufig ein berechenbares Grundmuster.
Deshalb wird auch die Bezeichnung Amoklauf zahlreichen Taten mit schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen nicht gerecht, da sie sich oftmals dadurch auszeichnen, Resultat klarer Planung und bestimmten Entwicklungsvorgängen zu sein. Die Öffentlichkeit und die Medien werden von den Tätern dabei in erster Linie als Publikum gesehen, um Rache und Aufmerksamkeitstaten entsprechend zu inszenieren. Da es sich vorwiegend um jugendliche Täter handelt, wird die Schule oft zum Ort des Geschehens.
In den vergangenen Jahren wurde in der Wissenschaft eine neue Begrifflichkeit eingeführt, wodurch Amoklauf an Schulen ersetzt wurde: School-Shooting. Dieser Begriff beinhaltet den Ankündigungscharakter, der typisch für diese Art des Amoks ist. Er schließt den Aspekt, spontan zu handeln und blind vor Wut zu sein, aus. Treffender ist es, von einer kalten Wut zu sprechen, die aus einer inneren Rationalität heraus mit gnadenloser Konsequenz exekutiert wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass es während der Tat nicht zu Raserei oder zu einem Blutrausch kommen kann. Möglicherweise ist deswegen die Bezeichnung Amoklauf auch bei School-Shootings in westlichen Industrienationen im allgemeinen Sprachgebrauch immer noch präsent – vor allem deshalb, weil es sich dabei um Personen handelt, die schwere Gewalttaten scheinbar wahllos gegen andere Personen richten. Wegen dieser nicht ausreichend eindeutigen Begrifflichkeit werden im Folgenden die Bezeichnungen Amok, Amoklauf und School-Shooting weitgehend synonym verwendet. Weiterhin wird, da es bisher keine klare deutschsprachige Bezeichnung für solche Taten gibt, der Begriff Schulanschlag eingeführt.
Schulanschlag beschreibt Taten, bei denen ein Täter gegenüber aktuellen oder früheren Angehörigen einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung gezielt und am Ort seiner empfundenen Demütigung schwere Gewalttaten plant und umsetzt.
Dabei darf ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Der Terror und die Angst, die hinter Schulanschlägen stecken, sind nicht nur Strategie des direkten Täters, sondern auch der zahlreichen Trittbrettfahrer, die mit dem Grauen eines zuvor stattgefundenen School-Shootings spielen und damit ihre eigene Welt und ihr Umfeld, die Schule und die dort agierenden Personen, unter Druck setzen. Wer es als wütender Schüler oder frustrierte Schülerin den anderen mal so richtig zeigen will, wer eigene Machtgefühle durch Angsteinjagen ausleben möchte, der muss nur ein paar anonyme Drohungen machen. Bei geschätzt 45.000 Schulen in Deutschland, über 6.000 in Österreich und rund 6.500 in der Schweiz ist nicht nur die Zahl möglicher Drohziele enorm, sondern eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit ist garantiert. Schulen gelten als Schon- und Rückzugsraum für Kinder und Jugendliche. Wer massiv in diese Welt einbricht, beispielsweise mit einer Todesdrohung, begeht damit eine maximale Grenzüberschreitung.
1.3Schulanschläge und Drohungen als kommunikativer Akt
Schulanschläge und Drohungen mit einem Amoklauf müssen als kommunikativer Akt begriffen werden, wie es bereits der Soziologe Lorenz Graitl in seinem Buch Sterben als Spektakel 2 beschreibt. Er geht zwar nur am Rande und aus Gründen der Abgrenzung spezifisch auf Amokläufer ein, dennoch lassen sich viele seiner kommunikationsbezogenen Erkenntnisse auf die Motivation von Schulattentätern übertragen. Tatsächlich sind die Medien das erste Hilfsmittel zur Verbreitung der Tat, wenn es in einem solchen Fall um kommunikative Aufmerksamkeit geht. Schulanschläge und ihre Androhung erfüllen alle journalistischen Kriterien, die solche Ereignisse zu einem Topthema machen: Eine hohe Dramatik und Aktualität, die persönliche Betroffenheit vieler Leser, Hörer und Zuschauer, eine große emotionale Tiefe des Themas und außergewöhnliche kriminelle Energie kommen hier zusammen. Die Medien sind zur Berichterstattung gezwungen und müssen permanent darauf achten, dass die Weitergabe der Informationen trotz des aktuellen Drucks angemessen bleibt. Die Berichterstattung in Winnenden konnte dem nicht immer standhalten, wie die folgende Abbildung zeigt.
Abb. 1: Medienschlagzeilen zum Schulanschlag von Winnenden (2009)
Eine reißerische Aufmachung der Berichterstattung kann vom Täter auch als Gratifikation aufgefasst werden. Auf der einen Seite besteht ein großes öffentliches Interesse an derart weitreichenden Ereignissen, gleichzeitig erfüllt ein Journalist, der über einen angedrohten oder durchgeführten Schulanschlag berichtet, aber auch die Handlungserwartungen