Amokdrohungen und School Shootings. Armin Himmelrath

Amokdrohungen und School Shootings - Armin Himmelrath


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      1.4Werther- und Copycat-Effekt

      Diese Problematik gab und gibt es auch bei anderen Themen, die im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stehen. So löste Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers mit seinem Erscheinen 1774 eine regelrechte Nachahmungswelle von Selbsttötungen aus. Fachleute sprechen deshalb bis heute vom Werther-Effekt, wenn mediale Berichterstattung über ein (Tötungs-)Ereignis zu entsprechenden Nachahmungstaten führen. In der englischsprachigen Medienwirkungsforschung ist in diesem Zusammenhang auch vom Copycat-Effekt die Rede: Was medial ausführlich dargestellt wird, regt Nachahmer an. Dass es sich keineswegs um einen antiquierten Effekt handelt, wurde 1981 auf tragische Weise belegt: Das ZDF strahlte die sechsteilige Fernsehserie Tod eines Schülers aus. Der Selbstmord des 19-jährigen Schülers Claus Wagner, der sich vor einen Zug wirft, steht im Mittelpunkt der Serie. In der Folgezeit stieg die Suizidrate unter 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern um 175%. Bestätigt wurde dieser Effekt, als die Staffel 1983 trotz der Warnungen von Psychologen noch einmal gesendet wurde. Die Zahl der Nachahmer-Selbstmorde stieg erneut auf über das Doppelte an. Obwohl das ZDF anschließend Studien vorlegte, nach denen die Serie und die gestiegene Zahl der Selbstmorde auf Bahngleisen nicht ursächlich miteinander zu tun hatten, ließen die Fernsehverantwortlichen die sechs Folgen dennoch bis vor wenigen Jahren für die Videoauswertung sperren.

      Wichtige Aspekte für die Nachahmung solcher Taten ist die Anzahl der konkreten Identifikationspunkte. Je mehr sich ein Leser oder Zuschauer mit der dargestellten Figur identifizieren kann und je mehr Einzelheiten über das Umfeld, aber auch über die Tat selbst geschildert werden, umso leichter wird es potenziellen Nachahmern gemacht.

      Der Arzt und Psychiater Volker Faust3 warnt vor diesen möglichen Identifikationspunkten und bittet die Medien bei der Suizidberichterstattung ausdrücklich um die Einhaltung folgender Punkte:

      •Angaben zur biologischen und sozialen Identität vermeiden.

      •Angaben zur Suizidmethode und zum Ort des Selbstmords vermeiden.

      •Keine Spekulationen über Hintergründe und Motive anstellen.

      Damit könne, so Faust, wirksame Prävention im Hinblick auf Nachahmungstäter betrieben werden, um den Werther-Effekt nicht erst entstehen zu lassen.

      Ausgiebige Hintergrundinformationen zum Werther-Effekt vermittelt der Arzt und Neurologie-/Psychiatrieprofessor Volker Faust auf der Webseite http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html.

      Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, Suizidberichterstattung zu unterlassen, wäre aus psychiatrischer Sicht sinnvoll, aus journalistischer Perspektive aber kaum umzusetzen. Ein generelles Themenverbot käme einer Zensur nahe. Der Verzicht auf ethisch reflektierte Grenzen der Berichterstattung wäre allerdings auch keine Lösung. „Eine suizidpräventive Berichterstattung steht im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln“4, beschreiben auch die Psychiater Walther Ziegler und Ulrich Hegerl in ihrem Artikel Der Werther-Effekt das journalistische Dilemma in dieser Situation. Wie aber können und wie sollten Medien über Ereignisse wie Suizide, Schulanschläge oder deren Androhung berichten, von denen ein hohes Nachahmungspotenzial ausgeht?

      Die Debatte darüber ist nicht neu. „Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte“5, formuliert Volker Faust sein Credo an Journalisten. Mit anderen Worten: Gefordert ist eine ethisch-moralische Abwägung zwischen Selbstbeschränkung und Informationsvermittlung. Wie schwer diese Abwägung fällt und wie groß die Herausforderung an die berichterstattenden Journalistinnen und Journalisten im Einzelfall sein kann, zeigt der Blick in die deutschsprachigen Pressekodizes. „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände“6, heißt es etwa in den Richtlinien zum Deutschen Pressekodex. „Journalistinnen und Journalisten üben bei Suizidfällen größte Zurückhaltung“7, formulieren es die Richtlinien des schweizerischen Presserats, „um das Risiko von Nachahmungstaten zu vermeiden, verzichten Journalistinnen und Journalisten auf detaillierte, präzise Angaben über angewandte Methoden und Mittel.“8 Im Ehrenkodex des österreichischen Presserats wird formuliert:

      »Berichterstattung über Suizide und Selbstverstümmelung sowie Suizidversuche und Selbstverstümmelungsversuche gebietet im Allgemeinen große Zurückhaltung. Verantwortungsvoller Journalismus wägt – auch wegen der Gefahr der Nachahmung – ab, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, und verzichtet auf überschießende Berichterstattung.9 «

      Volker Faust verweist in seinen Ausführungen außerdem auf die in den BBC-Producer-Guidelines festgelegten Vorgaben: „Die Berichterstattung über Suizide könnte andere ermutigen. Berichte sollten Details der Suizidmethode vermeiden. Seien Sie besonders vorsichtig mit Details, wenn die Methode ungewöhnlich ist.“10

      Was als journalistische Ethik für den Bereich der Suizidberichterstattung formuliert wird, lässt sich in seinen Überlegungen problemlos auf die Darstellung von angedrohten oder tatsächlich durchgeführten Schulanschlägen übertragen. Viele Amokläufer planen ihre Tat letztlich als erweiterten Selbstmord. Zahlreiche Jugendliche, die drohen oder zum Täter werden, beziehen sich bei der Rechtfertigung ihres Handelns immer wieder auf andere Schulattentäter und die Berichte in den Medien über deren Taten. Daher häuft sich sowohl im Anschluss an konkrete Fälle als auch zu Jahrestagen bestimmter Schulanschläge (etwa des Massakers in der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado am 20. April 1999) die Zahl der Drohungen durch Trittbrettfahrer.

      1.5Verschweigen chancenlos

      Betrachtet man das Verhalten der Drohenden aus aufmerksamkeitsökonomischer Sicht, so handeln sie hochgradig rational und zumeist erfolgreich. Sie wissen, dass ein angekündigter Schulanschlag sich auch ohne Berücksichtigung in den klassischen Medien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen schnell herumspricht. Und weil die kommunikative Vernetzung durch Online-Medien und soziale Netzwerke so groß ist, wird ein Totschweigen wegen der hohen Zahl der Beteiligten und Betroffenen schlicht unmöglich. Wird eine Klasse oder eine Schule evakuiert, gibt es garantiert Schüler, die das sofort kommunizieren. Die Tatsache, dass auf Facebook und Twitter, per WhatsApp und SMS solche Gerüchte oder Berichte verbreitet werden, setzt auch die professionellen Medien unter Druck: Sie wollen und sollen schließlich über das berichten, was die Leserinnen und Leser bewegt. Taucht das Ereignis in professionellen Medien auf, wirkt sich das auch verstärkend auf die Aktivität in den sozialen Netzwerken aus. Die Kommunikation nährt sich gewissermaßen gegenseitig, ohne dass der Amokdrohende weiter aktiv sein muss. Kurz gesagt: Das Verhältnis zwischen eigenem Handeln und öffentlicher Aufmerksamkeit geht so weit auseinander, dass eine Amokdrohung schnell als leicht durchzuführende Aktion mit maximaler Wirkung und Resonanz empfunden wird.

      Der Täter will der Schule beziehungsweise konkreten Personen drohen und Angst machen. Er will seine Macht gegenüber der Institution oder bestimmten Individuen zeigen. Durch eine entsprechende Drohung – von der Wandschmiererei bis zum ­Facebook-Eintrag, vom Drohbrief bis zur persönlichen Äußerung im Gespräch oder im Chat – kann er dafür sorgen, dass eine Kommunikationskette in Gang gesetzt wird, die er nach


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