minimal lernen. Regina Hunter
Lerngeschichte besonders in den ersten Schuljahren gar nicht genug Bedeutung beigemessen werden.»80
In internationalen Vergleichstests in Mathematik sind Kinder aus China, Japan und Korea westlichen Kindern regelmässig überlegen.81 Da chinesische Zahlwörter, z. B. «si» für 4 und «qi» für 7, sehr viel kürzer sind als «vier» und «sieben» im Deutschen (oder «four» und «seven» im Englischen), können Kinder, die chinesischer, japanischer oder koreanischer Muttersprache sind, sich Ziffern einfacher und schneller merken und sie leichter aneinanderreihen. Chinesische Kinder können sich z. B. Zahlenfolgen von sieben Ziffern merken, was nur die Hälfte der westlichen Kinder schafft. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, «dass wir die Zahlen zwischen 13 und 99 nicht in der Reihenfolge aussprechen, in der wir sie schreiben: Wir schreiben 14, 15, 18, aber wir sprechen vier-zehn, fünf-zehn, acht-zehn. Im Deutschen ist das Zahlensystem also äusserst unregelmässig. Anders im Chinesischen, Japanischen und im Koreanischen, die ein vollkommen logisches Zahlensystem besitzen: 11 ist zehneins, 12 ist zehn-zwei, 24 ist zwei-zehner-vier und so weiter.»82 Wenn ein deutschsprachiges Kind dann siebenunddreissig und zweiundzwanzig addieren soll, muss es diese Zahlen zuerst im Kopf in die richtigen Ziffern verwandeln, also in 37 + 22. Erst dann ist es möglich, die entsprechende Rechenoperation durchzuführen. Ein asiatisches Kind muss hingegen nur drei-zehner-sieben und zwei-zehner-zwei addieren, das heisst, die Rechenaufgabe ist in der sprachlichen Formulierung bereits enthalten. Während wir weiter beim Bruchrechnen von drei Fünfteln sprechen, heisst es im Chinesischen bildlich «von fünf Teilen nimm drei», was eine Erklärung des Bruchs ergibt und die eindeutige Unterscheidung zwischen Zähler und Nenner ermöglicht. Fuson meint, dass das asiatische Zahlensystem transparent sei und sich dadurch die gesamte Einstellung zur Mathematik positiv verändere zu: «Ich erwarte, dass ich das kann und dass es einfach ist.»83
Choon Tan «hält Mathematik für ein Grundbedürfnis, das vor dem Lesen komme, da unsere Weltordnung mathematischen Gesetzmässigkeiten unterliege».84 So kann Wissen das Zurechtfinden und Sicherheit in der Welt ermöglichen und dieses uns eigentlich mitgegebene Lernbedürfnis erklären.
Dilts beschreibt die schöne Art, wie einem Kind mit einer Lernbehinderung mit der bisherigen Strategie des Abzählens mit den Fingern beigebracht wurde, grössere Zahlen zusammenzuzählen: «‹Ich habe eine Idee! Egal, um was für zwei Zahlen es geht, in jedem Fall bist du die grössere Zahl, und die kleinere Zahl zählst du an den Fingern ab. Wenn es um die Dreizehn und die Vier geht, dann bist du die Dreizehn. Halte jetzt einmal vier Finger hoch und zähle.› […] ‹Gut. Was ist hundertfünfundzwanzig und sieben?› Zuerst zögerte das Kind. Die Zahlen erschienen ihm so ‹gross›. Der Psychologe erinnerte den Jungen. ‹Du bist die Hundertfünfundzwanzig. Halte jetzt sieben Finger in die Höhe und zähle.› ‹Hundertzweiunddreissig›, kam die erfreute Antwort […]. Als Nächstes wurde dem Jungen klar, dass man selbst beim Addieren vielstelliger Zahlen nie mehr als zwei Zahlen auf einmal zu addieren braucht, vorausgesetzt, man lernt, überzählige Zehner auf die nächste Stelle (links) zu übertragen. Plötzlich konnte dieses Kind, das nie zuvor Zahlen hatte addieren können, deren Summe höher als zehn gewesen war, mehrstellige Zahlen addieren […]. Ich glaube, da war noch etwas anderes, sehr Subtiles, das sehr wichtig war: dass der Lehrer das Kind aufforderte, sich mit den grossen Zahlen zu identifizieren. ‹Ich bin die grosse Zahl.›»85
Ein Beispiel für den Rückgriff auf eine sichere Lernerfahrung ist folgende Geschichte: Der Hypnosetherapeut Milton Erickson brachte einer Patientin und Bäuerin im Ruhestand das Schreiben und Lesen bei, indem er ihr zeigte, dass sie alles dazu notwendige Wissen schon zur Verfügung hatte und nur Buchstaben wie ihr bereits bekannte Dinge zusammenzubauen hatte. «Nun machen Sie zwei schräggestellte Zeichen, wie die eine Seite des Dachgiebels des Heuschobers und wie die andere Seite.»86 So erreichte er erfolgreiches Lernen, aufbauend auf dem Gefühl von Beherrschung.
Vorgehen
Einerseits ist es unbedingt notwendig, Lernen mit positiven Gefühlen von Beherrschung und Erfolg zu verbinden. Auf der anderen Seite ist dies nur möglich, wenn der Lernstoff so bearbeitet wird, dass sich diese Gefühle auch einstellen können.
Es ist möglich und unverzichtbar, dieses Gefühl von Beherrschung zu schaffen, indem der Lernstoff reduziert und minimalisiert wird. Für die Förderung von Interesse und Kompetenz ist es sehr bedeutsam, dass der Stoff einfach, d. h. klar statt kompliziert, und anschaulich, d. h. beispielhaft statt abstrakt, vermittelt wird. Konkret bedeutet dies, dass das Lerngebiet so verändert und angepasst werden muss, damit dieses Gefühl entsteht: «Pah, das ist ja total leicht, ich schaff das.»
Es ist notwendig, Wege zu suchen, wie das Lernen und der Stoff eingeteilt werden kann, dass unter allen Umständen, immer (!), bei den Lernenden dieses Gefühl entsteht: «Ich schaff das». Es darf aufs Mal immer nur ein kleines, kurzes, überschaubares Stück gelernt werden und nicht ein Sammelsurium, das überfordert und nur mit Mühe eingeordnet werden kann. Es ist entscheidend, nur so viel zu lernen, dass man ganz sicher ist, das perfekt zu können. Andernfalls geht man zurück, beschränkt sich und wiederholt. Man lernt in kleinen Stücken und Schritten vorwärts, sodass mit der entstandenen Sicherheit, dass man etwas ganz sicher kann, das Dopaminsystem aktiviert ist und keine Abwendung vom Lernen entsteht. Ebenso bedeutet dies, dass Lernmarathons keinen Sinn machen – in erster Linie auch nicht bei Jüngeren.
Es muss nach dem Lernen auf jeden Fall, ganz sicher das Gefühl da sein:
Das ist gar nicht viel.
Das ist ganz einfach.
Es ist keine Frage, ich kann das.
Dieser Gefühlszustand muss unbedingt vorhanden sein, andernfalls muss vorher aufgehört werden. Es geht also darum, wenig, dies aber sehr gut zu lernen, damit dieses Gefühl der Kompetenz und der Motivation entsteht: «Ich kann's». Lernen muss also so gestaltet, so einfach sein, dass automatisch der Ausspruch kommt: «Das ist ja total einfach». Dies kann als Bestätigung genommen werden, dass Mastering erreicht ist.
Das Ziel von Lernen ist, dieses gute Gefühl von Kompetenz zu erreichen. Die Herangehensweise, etwas in kleinen Schritten und minimal zu lernen, ist eine Grundvoraussetzung für dieses Gefühl von Mastering, von «Ich kann’s», «Das ist ganz einfach». Diese Erreichung eines Gefühls von Meisterschaft ist die erste Grundvoraussetzung für ein angenehmes und dann auch wiederholtes Lernen.
Es soll nun weiter nicht nur theoretisch beschrieben werden, wie gelernt werden kann und soll, sondern dies soll gezeigt werden. Dann kann Lernen neu gesehen werden. Deshalb geht es im Folgenden um die praktische Verwandlung des Stoffes in Minimales und die theoretische Basis, wie das Gehirn Informationen nach den Prinzipien des Minimalen verarbeitet.
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