Chaosköniginnen. Valentina Brüning
lange nicht mehr.«
»Zuletzt vor den Ferien?!«
»Sechs Wochen sind ’ne lange Zeit!«
»Apropos lange Zeit«, erwidert Fritzi in versöhnlichem Tonfall, denn Streit noch vor der ersten Stunde braucht keiner, nicht wegen so einer Bratbirne wie Emma Dörschner. »Die Umgehungsstraße im Wäldchen ist endlich fertig! Ich wette, da schaffen wir fünfzig km/h, wenn nicht sogar sechzig. Einen Teil hab ich schon getestet! Das war der absolute Wahnsinn.«
Lou antwortet nicht.
»Wir können aber natürlich auch zur Baracke und von dort am Freibad vorbei, wenn dir das lieber ist?« Von der alten Holzhütte aus führt ihre Lieblingsstraße am Freibad entlang bergab. Man wird so schnell, dass die Häuser am Straßenrand verschwimmen und einem die Augen tränen. Kurz vor der großen Kreuzung steigt die Straße wieder an. Ist man zu langsam, muss man den Hügel hochlaufen, ist man zu schnell, brettert man entweder in den Verkehr oder in eine pieksige Ligusterhecke. Vor den Ferien waren sie dort jeden Tag und haben geschrien vor Glück, wenn ihr Tempo sie genau bis zum höchsten Punkt des Hügels getragen hat.
Doch jetzt schüttelt Lou kaum merklich den Kopf. »Ich hab mein Longboard verschenkt.«
»Sehr witzig.«
»Mein Cousin wollte es sich eigentlich nur ausleihen über den Sommer, aber ich hab gesagt, er kann es behalten. Macht mir eh keinen Spaß mehr.«
Fritzi klappt der Mund auf.
Lou macht eine abschätzige Geste in Richtung von Fritzis Longboard. »Mich nervt es, das Ding immer mit mir rumzuschleppen, ich finde es irgendwie so kindisch, zu männlich, verstehst du?«
Fritzi schüttelt entgeistert den Kopf. Bevor sie weiter darauf eingehen kann, tritt die Schulleiterin Frau Doktor Fleck vor und begrüßt die Schüler zum neuen Schuljahr. Dann wendet sie sich an ihren Jahrgang: »Liebe Siebtklässler und Siebtklässlerinnen, ihr alle seid nun Teil der Mittelstufe und habt eine zweite Fremdsprache gewählt. Eure Klassenlehrer rufen jetzt nacheinander ihre Schüler auf. Ihr kommt nach vorne und geht dann gemeinsam in euren neuen Klassenraum.«
Unter normalen Umständen würde Fritzi das Geschehen auf der Bühne voller Spannung verfolgen, aber sie ist mit ihren Gedanken woanders. »Du hast dein Longboard verschenkt? Einfach so?«
Lou wird jeden Augenblick ein »Haha, gepranked!« von sich geben, sie muss, aber sie tut es nicht, sondern starrt immer noch wie gebannt geradeaus. Die Klassen Sieben a, b und c verlassen bereits hintereinander die Aula.
Fritzi redet sich um Kopf und Kragen. »Du könntest dir ein Drahtschloss zulegen, damit kann man das Board einfach an den Fahrradständer anschließen, ich glaub, ich hab noch eins zu Hause.« Lou reagiert gar nicht auf Fritzis Vorschlag, also setzt sie erneut an: »Ich bin sicher, wenn du die neue Strecke erst mal ausprobiert hast, willst du nie wieder was anderes fahren!« Um das Schweigen zu überbrücken, flüstert sie hektisch weiter: »Wir können uns ja heute auch mein Board teilen! Oder wir holen mein altes?«
»Lass mal gut sein.«
»Wie jetzt, lass mal?«
Lou blickt Fritzi resigniert an und sagt: »Zeiten ändern sich, Fritzi, checkst du das?«
Das klingt, als wären Jahre vergangen, dabei waren es doch bloß sechs Wochen Sommerferien.
»Bist du etwa sauer auf mich, weil ich nicht mitgekommen bin? Du weißt doch genau, dass meine Eltern es nicht erlaubt haben!«
Lou schüttelt den Kopf. »Du verstehst es einfach nicht, oder?«
Herr Renneberg tritt nun vor, der Lehrer der zweiten Französischklasse.
»Hä, was verstehe ich denn nicht?«
»Können wir jetzt da zuhören?«
Fritzi verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hat immer noch keine Lust auf Streit mit Lou, aber muss sie sich deswegen wirklich alles gefallen lassen heute?! Vielleicht hilft ja ausnahmsweise ein Tipp ihrer Mutter: Atmen.
»Abel, Mandy.« Das Mädchen neben Emma erhebt sich und geht nach vorne.
»Dörschner, Emma«, ertönt Herr Rennebergs Stimme.
Tatsächlich, atmen hilft. »Die Eiscafé-Tussis sind wir schon mal los, ein Glück. Jetzt noch Torben, Yessin und Bo dazu, und wir haben gewonnen«, freut sich Fritzi und versucht, gut Wetter zu machen.
Aber Lou reagiert nicht und als Nächstes wird auch keiner der Jungs genannt, sondern Herr Renneberg ruft: »Müller, Louise.«
Fritzi lacht verwirrt los. »Hä? Was ist denn da schiefgelaufen?!«
»Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen.« Lou weicht beschämt ihrem Blick aus. »Ich hab doch Französisch gewählt.«
Fritzi starrt sie mit offenem Mund an. Lou steht auf, bahnt sich ihren Weg durch die Sitzreihen zu ihrem neuen Klassenlehrer und Fritzi bleibt allein auf ihrem Stuhl zurück.
Ihr Gesicht ist kreidebleich, die Hände sind schweißnass. Sie steht unter Schock. Auf der Bühne wird ihre beste Freundin von den Eiscafé-Tussis begrüßt, als wäre sie eine von ihnen. Herr Renneberg führt seine Klasse aus der Aula und hinterlässt eine leere Bühne – leer wie Fritzis Kopf, wie der Platz an ihrer Seite, wie das Gefühl in ihrer Magengegend.
Passiert das alles gerade wirklich?!
DER MOLLENHAUER
»Schönchen.« Ein in die Jahre gekommener Lehrer in Pullunder und ausgebeulten Cordhosen steht auf der Bühne und streicht sich die fettigen Haarsträhnen über die Glatze. »Mein Name ist Mollenhauer. Alle Siebtklässler und Siebtklässlerinnen, die jetzt noch übrig sind, bitte mal aufstehen. Sie haben also Latein gewählt und kommen mit mir.« Er winkt den Schülern, ihm zu folgen, und führt sie hinaus auf den Hof und dann hinüber zum Nachbargebäude.
›Das ist alles ein furchtbar schlechter Scherz‹, denkt Fritzi, während sie willenlos hinter den andern her trottet. Nein schlimmer, das ist ein richtiger Albtraum! ›Aber das Gute an Albträumen ist, sie gehen vorbei‹, versucht sie, sich selbst Mut zu machen. Hat nicht neulich ein Gast in der Grünen Gans erzählt, dass so ein Horror nie länger als fünfzehn bis zwanzig Sekunden dauert? Fritzi zählt die Sekunden: »Eins, zwei, drei …«
BATSCH!
Ein spuckfeuchtes Papierkügelchen klebt an ihrer Wange. Sie wischt es angewidert mit dem Ärmel ihres neuen Sweatshirts ab und blickt sich um. Torben, Yessin und Bo sehen feixend zu ihr hinüber. Auch das noch!
»He, Fritz.«
»Ich muss verflucht sein«, murmelt sie.
»Wo ist deine bessere Hälfte?!«
»Wo ist dein Gehirn, du Spacken?«, kontert Fritzi.
Ein pummeliges Mädchen lacht laut. »Der hat gesessen!« Ihre Stimme ist überraschend tief. Sie lächelt ihr verschwörerisch zu. Fritzi hat sie noch nie gesehen und jetzt gerade ist sie auch nicht bereit, frische Bande zu knüpfen. Nein! Nicht jetzt. Mit niemandem. Ohne das Mädchen weiter zu beachten, eilt sie zu ihrem neuen Lehrer.
»Ähm, entschuldigen Sie?«
Der Lehrer schlurft weiter.
»Hier liegt ein Missverständnis vor.« Sie läuft neben ihm her.
»Ach ja?«
Fritzi nickt. »Ich hab eigentlich Französisch gewählt.«
»Aha.«
»Ich